Grimms Märchen, Vollständig überarbeitete und illustrierte Ausgabe speziell für digitale Lesegeräte (German Edition)
dem Leder, aus dem sie ihnen die Schuhe zuschnitt.
Eben war sie fertig geworden, als es an die Haustüre klopfte. Adam blickte durch eine Spalte und sah, daß es der Herr war. Ehrerbietig öffnete er, und der himmlische Vater trat ein. Da standen die schönen Kinder in der Reihe, neigten sich, boten ihm die Hände dar und knieten nieder. Der Herr aber fing an, sie zu segnen, legte auf den ersten seine Hände und sprach: »Du sollst ein gewaltiger König werden«, ebenso zu dem zweiten: »Du ein Fürst«, zu dem dritten: »Du ein Graf«, zu dem vierten: »Du ein Ritter«, zu dem fünften: »Du ein Edelmann«, zu dem sechsten: »Du ein Bürger«, zum siebenten: »Du ein gelehrter Mann.«
Er erteilte ihnen also allen seinen reichen Segen. Als Eva sah, daß der Herr so mild und gnädig war, dachte sie: Ich will meine ungestalten Kinder herbeiholen, vielleicht daß er ihnen auch seinen Segen gibt. Sie lief also und holte sie aus dem Heu, Stroh, Ofen und wo sie sonst hin versteckt waren, hervor. Da kam die ganze grobe, schmutzige, grindige und rußige Schar. Der Herr lächelte, betrachtete sie alle und sprach: »Auch diese will ich segnen.«
Er legte auf den ersten die Hände und sprach zu ihm: »Du sollst werden ein Bauer«, zu dem zweiten: »Du ein Fischer«, zu dem dritten: »Du ein Schmied«, zu dem vierten: »Du ein Lohgerber«, zu dem fünften: »Du ein Weber«, zu dem sechsten: »Du ein Schuhmacher«, zu dem siebenten: »Du ein Schneider«, zu dem achten: »Du ein Töpfer«, zu dem neunten: »Du ein Karrenführer«, zu dem zehnten: »Du ein Schiffer«, zu dem elften: »Du ein Bote«, zu dem zwölften: »Du ein Hausknecht dein Lebelang.«
Als Eva das alles mit angehört hatte, sagte sie: »Herr, wie teilst du deinen Segen so ungleich! Es sind doch alle meine Kinder, die ich geboren habe; deine Gnade sollte über alle gleich ergehen.«
Gott aber erwiderte: »Eva, das verstehst du nicht. Mir gebührt und ist not, daß ich die ganze Welt mit deinen Kindern versehe. Wenn sie alle Fürsten und Herren wären, wer sollte Korn bauen, dreschen, mahlen und backen? Wer schmieden, weben, zimmern, bauen, graben, schneiden und nähen? Jeder soll seinen Stand vertreten, daß einer den andern erhalte und alle ernährt werden wie am Leib die Glieder.«
Da antwortete Eva: »Ach, Herr, vergib, ich war zu rasch, daß ich dir einredete. Dein göttlicher Wille geschehe auch an meinen Kindern.«
Die Nixe im Teich
E s war einmal ein Müller, der führte mit seiner Frau ein vergnügtes Leben. Sie hatten Geld und Gut, und ihr Wohlstand nahm von Jahr zu Jahr noch zu. Aber Unglück kommt über Nacht! Wie ihr Reichtum gewachsen war, so schwand er von Jahr zu Jahr wieder hin, und zuletzt konnte der Müller kaum noch die Mühle, in der er saß, sein Eigentum nennen. Er war voll Kummer, und wenn er sich nach der Arbeit des Tages niederlegte, so fand er keine Ruhe, sondern wälzte sich voll Sorgen in seinem Bett.
Eines Morgens stand er schon vor Tagesanbruch auf, ging hinaus ins Freie und dachte, es sollte ihm leichter ums Herz werden. Als er über den Mühldamm dahinschritt, brach eben der erste Sonnenstrahl hervor, und er hörte in dem Weiher etwas rauschen. Er wendete sich um und erblickte ein schönes Weib, das sich langsam aus dem Wasser erhob. Ihre langen Haare, die sie über den Schultern mit ihren zarten Händen gefaßt hatte, flossen an beiden Seiten herab und bedeckten ihren weißen Leib.
Er sah wohl, daß es die Nixe des Teichs war, und wußte vor Furcht nicht, ob er davongehen oder stehenbleiben sollte. Aber die Nixe ließ ihre sanfte Stimme hören, nannte ihn bei Namen und fragte, warum er so traurig wäre. Der Müller war anfangs verstummt; als er sie aber so freundlich sprechen hörte, faßte er sich ein Herz und erzählte ihr, daß er sonst in Glück und Reichtum gelebt hätte, aber jetzt so arm wäre, daß er sich nicht zu raten wüßte.
»Sei ruhig«, antwortete die Nixe, »ich will dich reicher und glücklicher machen, als du je gewesen bist, nur mußt du mir versprechen, daß du mir geben willst, was eben in deinem Hause jung geworden ist.« – Was kann das anders sein, dachte der Müller, als ein junger Hund oder ein junges Kätzchen? Und sagte ihr zu, was sie verlangte. Die Nixe stieg wieder in das Wasser hinab, und er eilte getröstet und guten Mutes nach seiner Mühle. Noch hatte er sie nicht erreicht, da trat die Magd aus der Haustüre und rief ihm zu, er solle sich
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