Gegen jede Vernunft
1. KAPITEL
Anna hielt sich bewusst im Hintergrund und hoffte inständig, ihre gelassene Miene würde über das Chaos in ihrem Innern hinwegtäuschen. Immerhin hatte sie dafür eine Woche lang vor dem Spiegel geübt.
Dies war ganz sicher der demütigendste Abend ihres Lebens. Ihr Verlobter – pardon: Exverlobter! – würde eine andere Frau heiraten. Allegra Jackson, die er heute anlässlich einer glanzvollen Party dem erlauchten Publikum präsentieren wollte.
Vielleicht wäre es weniger dramatisch gewesen, hätte es sich bei dem frischgebackenen Bräutigam nicht um Prinz Alessandro gehandelt, den Thronerben des idyllischen Inselkönigreichs Santina. Anstatt der zukünftigen Königin an seiner Seite war sie jetzt die verschmähte Braut und musste nun auch noch im Ballsaal des Palasts die Verlobung der beiden mitfeiern!
Ein Umstand, den die Klatschpresse mit hämischer Genugtuung genüsslich breittrat.
Wieder, wieder und wieder …
Seit Alex sie so schmählich und in aller Öffentlichkeit zugunsten einer anderen hatte fallen lassen, war Anna keine ruhige Minute vergönnt gewesen. Dazu hatte er nicht einmal so viel Anstand besessen, sie persönlich von der Lösung ihrer Verlobung zu unterrichten. Sie hatte es durch eine Schlagzeile in der Morgenzeitung erfahren.
Es war einfach nur beschämend.
Genau wie das echte und geheuchelte Mitleid, das ihr jeder entgegenbrachte. Oder die wissenden Blicke – und überraschenderweise sogar ein Hauch von Tadel. Als wäre das royale Desaster ihre Schuld! Dabei war nicht sie von Paparazzi erwischt worden, wie sie einen anderen Mann küsste, sondern Alex mit Allegra Jackson!
„Du musst der Einladung Folge leisten, Kind“, hatte ihre Mutter verlangt. „So verlangt es das Protokoll.“
Das verfluchte Protokoll interessiert mich kein bisschen! Das sagte Anna aber nicht laut, sondern dachte es nur. Trotzdem empfand sie es als Zumutung, gute Miene zum bösen Spiel machen zu müssen. Ihr Leben lang war sie treu und brav dem Protokoll und der Pflicht gefolgt. Und was hatte sie davon? Strafe und Erniedrigung.
„ Sweetheart , tu es für mich“, flehte ihre Mutter und umfasste ihre Hände. „Königin Zoe ist meine liebste und älteste Freundin. Sie wäre schrecklich enttäuscht, wenn wir nicht da wären, um sie zu unterstützen.“
Sie unterstützen? Anna wusste nicht, ob sie hysterisch lachen, oder über die Ungerechtigkeit des Schicksals in Tränen ausbrechen sollte. Doch sie unterwarf sich dem eisernen Willen ihrer Mutter.
Als König Eduardo einen Toast auf das glückliche Paar ausbrachte, hob Anna artig das Champagnerglas, um auf Alex und die Frau zu trinken, die ihr übersichtliches, geordnetes Leben von oben nach unten gekehrt hatte.
Dem Himmel sei Dank waren heute Abend keine Pressefotografen zugelassen! Natürlich lauerten die Paparazzi außerhalb der Palastmauern, aber für den Moment war sie vor ihnen sicher. Trotzdem musste sie Haltung bewahren, lächeln und so tun, als drohe sie nicht, jeden Moment vor Scham tot umzusinken.
Anna nippte an ihrem Champagner. Noch etwa eine Stunde musste sie durchhalten, dann durfte sie sich endlich im Hotel ins Bett verkriechen.
Die kleine Rede des Königs endete, und die Band begann, einen Walzer zu spielen. Anna stellte ihr Glas auf dem Tablett eines vorbeikommenden Kellners ab und wandte sich den hohen Glastüren zu, die auf die Terrasse führten. Wenn sie nur für einen Moment entfliehen konnte, würde sie den Rest der Zeit sicher mit mehr Grazie und Würde überstehen.
„Anna, ich habe schon überall nach Ihnen Ausschau gehalten!“
Gequält schloss sie die Augen. Ausgerechnet Graziana Ricci! Widerwillig wandte Anna den Kopf, um die exaltierte Gattin von Amantis Außenminister mit einem strahlenden Lächeln zu begrüßen. Aber es war nicht Signora Riccis kosmetisch verjüngtes Gesicht, das ihren Blick fesselte, sondern der Mann an ihrer Seite.
Einer der vielen Engländer, die Santina in letzter Zeit zu bevölkern schienen, vermutete sie.
Er war groß, trug, wie fast alle männlichen Gäste, einen maßgeschneiderten Smoking und sah einfach umwerfend aus. Auf eine jungenhafte Weise, die allerdings absolut nicht jugendfrei war. Eher teuflisch gefährlich, wenn sie den glitzernden Blick aus kaffeebraunen Augen richtig interpretierte. Seine markanten Gesichtszüge hätten einer Skulptur von Michelangelo gehören können. Folgerichtig sah Anna den fremden Adonis plötzlich nackt auf einem Marmorpodest stehen –
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