Grischa: Goldene Flammen
zurück. »Ich muss es behalten«, erklärte ich ihm, »denn es ist das einzige Mittel, um Rawka von der Schattenflur zu erlösen.«
Das stimmte â wenn auch nicht ganz. Wir brauchten den Reif. Er beschützte uns vor der Macht des Dunklen und verhieà uns, dass wir irgendwann nach Rawka zurückkehren würden, um alles in Ordnung zu bringen. Doch was ich Maljen nicht sagen konnte, war, dass mir der Reif gehörte , dass die Macht des Hirsches auf mich übergegangen war und dass ich mir nicht sicher war, ob ich darauf verzichten wollte.
Maljen musterte mich mit gerunzelter Stirn. Ich dachte an die Warnung des Dunklen und an den ausdruckslosen Blick seiner Augen, den ich auch bei Baghra wahrgenommen hatte.
»Alina â¦Â«
Ich versuchte beruhigend zu lächeln. »Ich lege ihn ab«, versprach ich. »So bald wie möglich.«
Einige Sekunden verstrichen. »Na gut«, sagte er schlieÃlich, schaute aber weiter argwöhnisch drein. Dann trat er mit einer Stiefelspitze gegen die auf dem Boden liegende Kefta. »Was machen wir mit diesem Ding?«
Ich sah auf den Haufen zerknitterter Seide hinab und spürte, wie mich Wut und Scham überkamen.
»Verbrennen«, sagte ich.
Und das taten wir.
Während die Flammen die Seide verzehrten, zog Maljen die restlichen goldenen Nadeln nacheinander aus meinen Locken, bis diese wieder um meine Schultern fielen. Dann schob er die Haare sanft beiseite und küsste mich auf den Nacken, direkt über dem Reif. Und als ich zu weinen begann, zog er mich an sich und hielt mich, bis nur noch Asche von der Kefta übrig war.
Der junge Mann und die junge Frau stehen an der Reling des Schiffes, eines richtigen Schiffes, das auf der Wahren See schwankt und schlingert.
»Goed morgen, fentomen!« , ruft ein Matrose, der mit Tauen beladen an ihnen vorbeigeht.
Sie werden von der gesamten Besatzung fentomen genannt. In der Sprache der Kerch heiÃt das Geist.
Als sich die junge Frau beim Quartiermeister nach dem Grund erkundigt, lacht er nur und antwortet dann, sie seien so blass und stünden so still an der Reling und starrten so lange auf das Meer, als hätten sie noch nie Wasser gesehen. Sie lächelt nur und verschweigt ihm die Wahrheit: Sie müssen den Horizont im Auge behalten. Sie halten Ausschau nach einem Schiff mit schwarzen Segeln.
Die Verloren hatte längst abgelegt. Also hatten sie sich im Armenviertel von Os Kerwo versteckt, bis der junge Mann eine Ãberfahrt auf einem anderen Schiff aushandeln konnte. Er bezahlte mit einer goldenen Haarnadel. In der Stadt waren die entsetzlichen Ereignisse von Nowokribirsk das einzige Thema. Einige beschuldigten den Dunklen. Andere die Shu-Han oder die Fjerdan. Und manche behaupteten gar, es sei die Vergeltung erzürnter Heiliger gewesen.
Gerüchte über merkwürdige Vorgänge in Rawka kamen ihnen zu Ohren. Sie hörten, dass der Asket verschwunden sei, dass an den Grenzen fremde Heere zusammengezogen würden, dass ein Krieg zwischen der Ersten und der Zweiten Armee drohe, dass die Sonnenkriegerin tot sei. Sie warteten auf die Nachricht, dass der Dunkle auf der Schattenflur ums Leben gekommen war, aber sie warteten vergebens.
Während der Nacht liegen der junge Mann und die junge Frau eng umschlungen im Bauch des Schiffes. Er hält sie, wenn sie wieder aus einem Albtraum aufschreckt. Dann klappern ihre Zähne, in ihren Ohren gellen die Schreie der Männer und Frauen, die sie auf dem zerstörten Skiff zurückgelassen hat, und der Nachhall ihrer Macht lässt sie am ganzen Körper erbeben.
»Alles ist gut«, flüstert er in der Dunkelheit. »Alles ist gut.«
Sie möchte ihm glauben, aber sie hat Angst, die Augen zu schlieÃen.
Der Wind lässt die Segel knattern. Ringsumher ächzt das Schiff. Sie sind wieder allein, wie damals in ihrer Kindheit, als sie sich vor den anderen Kindern versteckten, vor Ana Kujas Launen, vor all den umheimlichen Dingen, die durch die Nacht huschten und tanzten.
Sie sind wieder Waisen und das einzige Zuhause, das sie haben, ist der jeweils andere. Und vielleicht das Leben, das sie sich jenseits des Meeres aufbauen werden.
D A N K S A G U N G
Mein Dank gilt meiner Agentin und Mitstreiterin Joanna Stampfel-Volpe; ich bin jeden Tag froh, sie an meiner Seite zu wissen. Das Gleiche gilt für das fantastische Team von Nancy Coffey Literary: Nancy, Sara Kendall, Kathleen Ortiz, Jaqueline
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