Gudrun Pausewang
Ditfurth schrieb ich einige Bücher zum Thema ›Pflege der Umwelt‹.
Inzwischen hatte ich Abstand zu meinem nationalsozialistischen Leben in meiner Jugend und dem Schmerz der Erkenntnis gefunden, mich bis zu meinem 17 . Lebensjahr für eine falsche Ideologie begeistert zu haben. Im Jahr 1991 wagte ich mich an das Thema Judenverfolgung und schrieb ›Reise im August‹. Ab dieser Zeit habe ich mich immer wieder schriftstellerisch mit dem Nationalsozialismus beschäftigt.« Was das Kriegsende und die Vertreibung aus Ostböhmen angeht, ist Gudrun Pausewang Zeitzeugin und Chronistin zugleich.
Wir wussten: Der Krieg war verloren
»Wir, meine Mutter und wir sechs Kinde r – ich, die Älteste, damals 17, mein jüngster Bruder dreieinhalb Jahre al t –, lebten in einem Holzhaus auf zwei Hektar Land, etwa eineinhalb Kilometer außerhalb unseres Dorfes Wichstadtl. Unser Anwesen lag einsam zwischen Feldern und Wäldern des Adlergebirges, unweit der ehemaligen deutsch-tschechischen Grenze. Schon über Wochen war der Geschützdonner der deutsch-russischen Front immer lauter geworden. Wir erkannten: Der Krieg war verloren. Längst hatten die Schulen den Unterricht eingestellt. Anfang Mai 1945 zogen von Tag zu Tag immer mehr Flüchtlinge in Richtung Westen über die Landstraße, die 20 0 Meter von unserem Haus entfernt durch unser Dorf ins Adlergebirge und von dort weiter in Richtung Westen führte. Bald konnten wir von unserem Haus aus auch immer mehr Wehrmachtsverbände beobachten, die die total verstopfte Landstraße verließen und in wilder Panik flüchteten. Dabei warfen sie alles weg, was sie an der Flucht hinderte. Die ganze Landschaft war übersät mit Koffern und vollen Rucksäcken, Rot-Kreuz-Material und abgestreiften Uniformteilen, Lebensmitteln und weggeworfenen Waffen. In den Straßengräben der Landstraße türmten sich liegen gebliebene Militärfahrzeuge, Geschütze, ganze Schreibstuben, fahrbare Küchen. Nur for t – nicht den Russen in die Hände fallen! Natürlich waren unter den Flüchtlingen auch Nazi-Bonzen mit ihren Familien, die sich in ihren Dienstfahrzeugen, mit gefälschten Ausweisen und in Zivilkleidung zu retten versuchten.«
Am 9 . Mai 1945, also unmittelbar nach der Kapitulation Deutschlands, marschieren auch in Wichstadtl russische Soldaten ein. Es wird nicht mehr geschossen. Die Bevölkerung atmet auf. »Aber viele deutsche Mädchen und junge Frauen versteckten sich in den Wäldern. So auch meine nächstjüngste Schwester und ich. Trotzdem fanden im Dorf einige Vergewaltigungen statt. Und fast allen Dörflern wurden die Taschen- und Armbanduhren abgenommen. Insgesamt aber hatte man sich aufgrund der NS-Hetzpropaganda das Verhalten der russischen Soldaten schlimmer vorgestellt. Vor allem staunte man über die Kinderfreundlichkeit der Russen.«
Wichstadtl erlebt ein paar ruhige Tage. Die Einwohner werden darüber informiert, dass das Sudetenland jetzt wieder zur Tschechoslowakei gehöre. Im Dorf hat ein tschechischer Amtsträger das Sagen. Auf Aushängen und Plakaten werden die Bewohner aufgefordert, alle Waffen abzugeben und die Straßen vom Müll der Flüchtlinge zu säubern. Es ist strikt verboten, deutschen Flüchtlingen, die noch immer durchziehen, zu helfen.
Vertreibung in Etappen
Die Vertreibung der Deutschen geht in Etappen voran. Zunächst müssen nach der Schilderung von Gudrun Pausewang die Bombengeschädigten aus Deutschland, die im Laufe des Krieges im Sudetenland untergekommen waren, gehen. In Wichstadtl warten die Menschen gespannt auf das, was mit ihnen geschehen wird. »Man atmete auf, als sich herumsprach, dass der deutsche Bäcker wieder backen durfte. Man hatte den Eindruck, dass sich das Leben langsam wieder normalisierte, allerdings unter tschechischer Befehlsgewalt.«
Die Hoffnung auf ein halbwegs normales Leben währt nicht lange. Unmittelbar nach zwei ruhigen Pfingstfeiertagen »geschah Schreckliches in fast allen Dörfern und Städten des deutschsprachigen Randgebietes der Tschechoslowakei: Tschechische paramilitärische Einheiten besetzten die Ortschaften, auch unser Dorf, und zwar am 22 . Mai 1945. Sie trieben alle Männer zusammen und hielten ein Standgericht ab, das zehn Männer das Leben kostete. Sie wurden auf grauenvolle Weise umgebracht, darunter der Bürgermeister, der Oberlehrer, der Vater eines SS-Mannes, ein 16-jähriger Junge, in dessen Hosentasche man eine leere Patrone fand, ein ehemaliger deutscher Soldat, der an der Front einen Arm verloren hatte.
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