Gudrun Pausewang
Auch mein Vater stand auf der Liste, die vorgelesen wurd e – obwohl er seit zwei Jahren nicht mehr lebte. Ein anderer Mann mit demselben Familiennamen, schon alt und schwerhörig, glaubte seinen eigenen Vornamen zu hören, trat vor und wurde anstelle meines Vaters mit einem Gewehrkolben erschlagen.«
Flucht über die Grenze
»Auch bei uns hatte eine Hausdurchsuchung stattgefunden. Die tschechischen Soldaten drohten meiner Mutter an, noch am selben Abend wiederzukommen. Kaum waren sie gegangen, flüchtete die Mutter mit uns Kindern über die Grenze bis ins nächste schlesische Dorf. Eigentlich wollte sie mit uns, sobald sich alles beruhigen würde, wieder auf unser Anwesen zurückkehren. Aber als wir von diesem Massaker hörten, wurde der Mutter klar, dass wir, die Kinder von Deutschen, in der Nachkriegs-Tschechoslowakei keine Chance haben würden. Und so entschloss sie sich, nicht zurückzukehren, sondern zu versuchen, sich mit uns zu ihrer einzigen Schwester durchzuschlagen.«
Die Mutter von Gudrun Pausewang stammte aus Saarbrücken. Nach der Heirat war sie mit ihrem Mann ins Sudetenland gezogen. Deswegen fällt es ihr nicht ganz so schwer, ihr Anwesen aufzugeben und sich irgendwo in Deutschland niederzulassen. »Nach dem ersten Schock empfand unsere Mutter die Aufgabe, mit uns sechs Kindern etwa 80 0 Kilometer zurückzulegen, als Herausforderung: ›Das werden wir schon irgendwie schaffen! Hauptsache, wir überleben!‹ Wir schafften es mit einem Handwagen, den meine Schwester und ich zogen. Unsere Mutter schob ihn, die beiden mittleren Geschwister gingen links und rechts, die Hand am Wagen, die zwei jüngsten Geschwister saßen auf dem Gepäck im Wagen. Wir schliefen oft unter freiem Himmel oder in verlassenen Häusern, suchten nach Kartoffelresten in den Kellern, bettelten um Milch und Brot, sammelten, als es Sommer wurde, Beeren in verlassenen Gärten und im Wald und wuschen unsere Wäsche in Bächen oder unter Pumpen.
Ich hatte große Angst, vergewaltigt zu werden. Denn die Nazi-Ideologie hatte uns Mädchen vermittelt: Mit der Schändung verliert eine Frau ihre Ehre. Zweimal zeigten polnische und russische Soldaten großes Interesse an mir. Ich entkam ihnen dank der Hilfe anderer Frauen. Wäre mir das nicht gelungen, hätte ich mir wahrscheinlich das Leben genommen. Die Russen ließen uns nicht in den englisch besetzten Sektor ziehen. So suchten wir auf der russisch besetzten Seite der Demarkationslinie, in Mecklenburg, eine vorläufige Unterkunft und fanden sie schließlich in einem einsturzgefährdeten Schulgebäude in Lübz. Sieben Wochen brauchten wir von daheim bis dort.Für mich war die Flucht trotz aller Mühsal ein großes Abenteuer: hinaus in die große, unbekannte Welt! Erst als wir in Mecklenburg erfuhren, dass zehn Tage nach unserer Flucht etwa die Hälfte der Bewohner unseres Dorfes innerhalb von zwei Stunden ihre Wohnungen, ihre Häuser hatten verlassen müssen und unter Bewachung über die Grenze davongejagt worden waren, ahnte ich, dass diese Vorgänge weit mehr waren als nur ein Abenteuer.«
Interview mit Gudrun Pausewang
Die Schriftstellerin hat ihre Flucht aus der Heimat in einigen ihrer Bücher literarisch verarbeitet.
Frau Pausewang, der Verlust der Heima t – wie hat sich das auf Ihr späteres Leben ausgewirkt?
G P – Als 17-Jährige hat mich dieser Verlust nicht so hart getroffen wie alte Leute, die sich Zeit ihres Lebens nicht weiter entfernt hatten als bis zur nächsten Kreisstadt oder zum nächsten Wallfahrtsort. Sie müssen sich außerhalb ihrer heimatlichen Umgebung völlig verloren vorgekommen sein. Als junger Mensch aber ist man neugierig, man freut sich darauf, andere Gegenden kennenzulernen, andere Landschaften und Menschenschläge, andere Bräuche und Dialekte. Gewiss: Man gehörte nun in Deutschland zu der unteren Gesellschaftsschicht, der Schicht der »Habenichtse«, der »Hergelaufenen«, der »Bittschöner«. Aber für mich und viele andere junge Flüchtlinge und Vertriebene hatte der Verlust der Heimat durchaus auch positive Folgen: Man sammelte eine Fülle von Erfahrungen, lernte andere Lebensweisen kennen, lernte sich durchzusetzen, sah sich zahlreichen Bildungschancen gegenüber, die einem die nun wieder unter tschechischem Kommando befindliche Heimat nicht hätte bieten können. Ich wollte vor allem hinaus in die Ferne.
Sind Sie in Ihre Heimat zurückgekehrt?
G P – Schon zu Pfingsten 1964 fuhr ich nach Ostböhmen, um zu sehen, was aus unserem Anwesen
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