Gute Nacht Zuckerpüppchen
Gewalt zu sprechen, trotzdem die Angst und die Scham zu überwinden und jemanden zu suchen, zu dem man Vertrauen haben kann. Viele Mädchen schaffen es nicht, warten wie Gaby jahrelang darauf, daß sich ihre Situation durch ein Wunder ändert. Aber mehr und mehr Mädchen erfahren heute, daß sie nicht die einzigen sind, denen so etwas passiert, daß es Frauen gibt, die sich auskennen, die ihnen glauben und ihnen Unterstützung geben können.
Das ist das Verdienst von Frauen, die selbst als Mädchen sexuelle Übergriffe durch Väter und andere Männer ertragen mußten und die später als erwachsene Frauen begonnen haben, eine öffentliche Diskussion darüber herzustellen, andere Frauen und Mädchen zu informieren, Beratungsstellen einzurichten und Selbsthilfegruppen anzubieten. Bei uns wird diese Diskussion in der Öffentlichkeit erst seit wenigen Jahren geführt, und noch nicht allzuviele Verantwortliche und auch Betroffene wissen davon oder nur sehr wenig. Daß sich daran etwas ändert, dazu trägt auch Gabys Geschichte bei. Mädchen, die heute sexuelle Gewalt erleiden oder davon bedroht sind, können, wenn sie durch einen glücklichen Zufall dieses Buch in die Hand bekommen, von Gaby lernen. Sie können versuchen, ihre Situation schon früher zu verändern: auszusprechen, was sie bedrückt: können versuchen, an sich selbst zu denken. Sie können sich klarmachen, daß nicht sie schuld daran sind, schlecht sind, verachtungswert sind, sondern daß es der Mann ist, der Verantwortung trägt dafür, was er tut und was er läßt. Er allein muß zur Rechenschaft gezogen werden, das Mädchen sollte nur Unterstützung und Trost bekommen, weder Vorwürfe noch Strafandrohung.
Vielen Mädchen geht es so, daß die ersten sexuellen Übergriffe schon dann beginnen, wenn sie noch ganz klein sind und gar nicht genau wissen, was das denn ist und daß das alles mit Sexualität zu tun hat. Sie wissen nur, daß sie es nicht wollen, daß es irgendwie unangenehm ist, daß es ihnen weh tut. Aber gerade dann, wenn sie klein sind oder wenn sie eine sehr zärtliche Beziehung zu diesem Mann haben, ist es oft schwer zu sagen: „Ich will das nicht.“ Gaby war sogar mutig und hat schon als kleines Mädchen ganz am Anfang gesagt, daß er damit aufhören soll, daß sie es nicht will. Aber auch das hat ihr nichts genützt, denn ihr Vater hat sowieso nur getan, was er wollte. Später wurde es für sie sehr riskant, ihm zu widersprechen. Als sie älter wurde, lernte sie ihn als sehr gewalttätig kennen und hatte allen Grund, vorsichtig zu sein und die Situation nicht noch mehr eskalieren zu lassen. Gabys Vater war so unbeherrscht, daß er sie einige Male schwer mißhandelt hat. Andere Männer, die Mädchen mißbrauchen, kommen ganz ohne Schläge aus: Sie erpressen die Mädchen, oder sie machen sie völlig von sich abhängig, zerstören die gute Beziehung zur Mutter, reden ihnen ein, das sei normal und alle Väter täten das mit ihren Töchtern. Auch wenn der Mißbrauch nicht durch Schläge und Mißhandlungen erzwungen wird — er ist auch dann genauso schlimm. Manche Mädchen lieben ihre Väter trotzdem sehr und würden alles tun, damit sie nicht unglücklich sind.
Wenn Mädchen sexuell mißbraucht werden, wird ihnen von dem Mann immer sehr gründlich klargemacht, daß sie darüber nicht reden dürfen. Das Geheimnis muß gewahrt werden, denn seine Sicherheit hängt davon ab, daß sie schweigt. Vor allem die Mutter darf nichts davon erfahren. Aber die Mädchen selbst wollen meist nicht, daß jemand davon erfährt, denn sie sehen sich selbst als „besudelt“ — wie Gaby es nennt — als beschmutzt und gedemütigt. Sie wollen auf keinen Fall, daß dieses „Geheimnis“ anderen bekannt wird, daß sie dadurch die Liebe und Achtung von anderen verlieren. Gaby hat die Liebe ihrer besten Freundin als kleines Mädchen dadurch verloren, daß der Vater auch sie angegriffen hat. Gaby hat es nicht gewagt, die Wahrheit zu sagen. Sie hat die Liebe ihres ersten Freundes verloren, weil ihr Vater sie bei ihm schlecht gemacht hat. Wie hätte der Freund reagiert, wenn er die Wahrheit erfahren hätte? So oder so war sie in seinen Augen nicht mehr unschuldig, sondern verdorben. Mädchen geraten durch den sexuellen Mißbrauch in große Isolation, und der Mann, der ihnen Gewalt antut, hat alle Mittel in der Hand, um diese Isolation zu verstärken. Aber eine, die keine Freundinnen und Freunde hat, die keine Menschen um sich hat, zu denen sie volles Vertrauen haben
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