Gute Nacht Zuckerpüppchen
es für ihn „etwas ganz Besonderes“ ist. Sicher würde sich jedes Mädchen freuen, wenn der Vater so zu ihr wäre.
Wenn da nicht all das andere wäre, das Schreckliche. Das, was sie nicht will, was sie aber nicht abwehren kann. Das, worüber sie sich nicht zu reden traut, was sie krank macht und verzweifelt — was bewirkt, daß sie schließlich nicht mehr leben will: die sexuellen Übergriffe des Vaters, von denen nie jemand etwas erfahren darf und die ihr das Leben zur Hölle machen. Und wer jetzt denkt, daß es deshalb so schwierig war für Gaby, weil in dieser Zeit der vierziger und fünfziger Jahre eben alle so prüde und verklemmt waren, daß ein Mädchen wirklich nicht über solche Dinge mit anderen sprechen konnte, der irrt sich. Auch heute ist es für die Mädchen, die sexuell mißbraucht werden, das größte Problem, Mut zu fassen und sich jemandem anzuvertrauen. Das hat mit Prüderie gar nichts zu tun. Ein Mädchen, das sexuelle Übergriffe ertragen muß vom Vater oder einem anderen nahestehenden Mann, das weiß genau, welch ungeheure Beschuldigung sie ausspricht, wenn sie das laut sagt. Sie muß sich fragen, wer ihr diese Geschichte überhaupt glauben wird; wer Verständnis aufbringen wird dafür, daß sie schon so lange geschwiegen hat; wer verstehen wird, wie sehr sie sich geängstigt hat; wie furchtbar das alles für sie ist und wie schwer es ist, das in Worte zu fassen. Auch heute haben Mädchen große Angst davor, was wohl passieren wird, wenn sie aussprechen, was ihnen angetan wird. Und sie schämen sich sehr und glauben selbst, schuldig zu sein an dem, was der Mann mit ihnen macht. Und, was das wichtigste ist, sie wissen nicht, daß es so viele Mädchen sind, denen so etwas passiert. Jedes dritte Mädchen macht noch vor seinem 16. Lebensjahr die Erfahrung sexueller Gewalt, und den meisten von ihnen geht es wie Gaby: Es ist ein Freund, ein Bekannter, ein Mann der eigenen Familie, der Stiefvater, der Vater.
Da mag sich noch so viel verändert haben zwischen Kindern und Erwachsenen, zwischen Eltern und Kindern und auch zwischen Frauen und Männern in den letzten Jahrzehnten: Trotzdem sind heute Mädchen genauso abhängig von ihren Familien, möchten am liebsten in Liebe und Geborgenheit leben und sind bereit, sehr viel dafür zu tun, damit der Vater, die Mutter und auch die Geschwister glücklich sind. Genau wie Gaby. Sie weiß genau, daß die neue Ehe der Mutter auf dem Spiel steht; sie weiß, daß es nicht einfach ist, drei Kinder alleine aufzuziehen. Der Wunsch Gabys und auch ihres Bruders, lieber ohne den neuen Vater und dafür in Frieden zu leben, tritt selbstverständlich zurück hinter den Wünschen und Plänen der Erwachsenen. Die Kinder fügen sich. Gaby weiß, daß viel Verantwortung auf ihr ruht, vieles von ihr abhängt. Wie sehr sie vom Vater für den Familienfrieden verantwortlich gemacht wird, können wir daran sehen, daß sie später ein Abkommen mit ihm trifft, das die Zahl der Vergewaltigungen und Übergriffe pro Woche regelt. Daraufhin herrscht allgemeine Zufriedenheit und Harmonie in der Familie, weil er endlich bekommt, was er will. Wie schäbig diese Situation ist, scheint ihm nicht klar zu sein, auch daß Gaby ihm weder Liebe noch Achtung entgegenbringt, schon gar nicht sexuelles Interesse — das sieht er nicht. Er sieht nur seine eigenen Bedürfnisse und interpretiert Gabys Verhalten ganz nach seinen Phantasien. Für Mädchen, die in einer ähnlichen Falle stecken wie Gaby, ist es lebenswichtig zu wissen, daß sie reden und Hilfe suchen dürfen, ja sogar um ihrer selbst willen müssen. Niemand darf ihnen vorwerfen, sie hätten den Familienfrieden zerstört oder die Familie auseinandergerissen. Das hat der Mißbraucher getan, nicht sie. Er hat ihr Vertrauen mißbraucht, seine Macht mißbraucht, sie erpreßt und verletzt. Damit hat er das Recht verwirkt, sich Vater zu nennen und ihre Loyalität als Tochter in Anspruch zu nehmen.
Auch wenn sie vielleicht vorgehabt hatte, mit ihrer Mutter über alles zu reden, so ist es ihr spätestens dann unmöglich geworden, als sie miterlebt, wie die Mutter einen Selbstmordversuch unternimmt, als ihr Mann sie verlassen will. Jetzt trägt Gaby, so klein sie noch ist, nicht nur Verantwortung für das Glück der Mutter, sondern auch für deren Leben. Denn was wird die Mutter tun, wenn sie die ungeheure Wahrheit über ihren Mann erfährt: daß er die Stieftochter sexuell mißbraucht? Es gehört viel Mut dazu, trotzdem über die erlebte
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