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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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    Mit locker schwingenden Armen fliegt Shirin über den Asphalt wie eine Schwalbe, den Abendwind im Gesicht. Wenn man traurig ist, gibt es nichts Besseres, als auf Skates über eine leere Straße zu jagen und den Kummer einfach hinter sich zu lassen. Sie fliegt, und der Himmel, rot und blau, stürzt ihr durch die weit aufgerissenen Augen mitten ins Herz. In den Kopfhörern ihres iPods hämmert der Beat von Rihanna. Die Leuchtreklamen und Straßenlampen drehen sich wie ein schimmerndes Rad um ihren Kopf, als sie einen Laternenmast packt und im Kreis herumwirbelt. An der Ampel muss sie warten, dann hat sie die U-Bahn erreicht und drückt auf den Fahrstuhlknopf, weil Mama nicht will, dass sie mit angeschnallten Skates die Treppe nimmt. In letzter Zeit ist Mama immerzu besorgt, besorgt, besorgt.
    Der Lift zu den Gleisen fährt so langsam, dass Shirin den Zug verpasst, den sie eigentlich kriegen wollte. Sie sieht die Rücklichter noch in der schwarzen Tunnelröhre verschwinden. Eine Zeit lang ist sie der einzige Mensch auf dem trübe beleuchteten Bahnsteig. Sie nimmt die Kopfhörer ab und hängt sie sich um den Hals. Sie betrachtet die Plakate, die an den Säulen hängen. Die meisten kennt sie schon, deswegen fängt sie an, um die Sitzbänke und Müllkörbe herumzuflitzen, obwohl die Schilder an den Säulen rot durchgestrichene Skates zeigen. Aber sie zeigen auch brennende Zigaretten, die genauso verbo ten sind, und der Mann, der plötzlich vor ihr steht, raucht trotzdem. Shirin hätte ihn beinahe umgefahren. Eben noch war der ganze Bahn steig leer, und einen Moment später steht der Mann vor ihr und sieht sie erschrocken an. »Tschuldigung!«, entfährt es ihr.
    Der Mann sieht sie nur weiter an, ohne etwas zu sagen. Er ist groß und dünn, und er schwitzt, obwohl es hier unten nicht so heiß ist. Vielleicht weil er einen Mantel trägt, denkt sie. Alles an ihm ist schwarz, der Ledermantel, die Hose, die Sandalen, auch das Haar und der Bart, nur die Füße in den Sandalen nicht; die sind nackt und weiß. Jetzt lächelt er auf einmal, aber so ein Lächeln hat Shirin noch nie gesehen, und es hält auch nicht lange. Sie macht eine ungeschickte Kehrtwende und rollt fort von ihm.
    Der Mann folgt ihr langsam. Ein paar Schritte entfernt bleibt er stehen, raucht den letzten Zug von seiner Zigarette und drückt sie am Rand des Müllkorbs an der nächsten Säule aus. Danach holt er ein Handy aus der Tasche und bewegt den Zeigefinger mehrmals über das Display. Er liest etwas, bewegt dabei die Lippen, als wollte er das, was er liest, auswendig lernen. Er verstaut das Handy wieder in der Tasche, und dann verschränkt er die Hände vor dem Bauch, so fest, dass die Knöchel seiner Hand rötlich durch die weiße Haut schimmern.
    Shirin schaut weg, zur Treppe, auf der gerade ein Punker herunterkommt. Er trägt eine Lederjacke mit überbreiten Schultern, schmut zige Turnschuhe und Jeans mit Löchern, durch die man seine dünnen Beine sehen kann. Seine nackte Brust ist bleich, eingefallen. In seiner linken Wange steckt eine blitzende Sicherheitsnadel, und auf dem kahlgeschorenen Kopf hat er einen feuerroten Irokesenkamm. Auf seiner Schulter kauert eine weiße Ratte. Während er auf den Zug wartet, gibt er ihr aus einer Dose ein bisschen Bier zu trinken, das er sich vorher in die Hand schüttet.
    Der Fahrstuhl bewegt sich nach oben, aber eine Zeit lang kommt niemand herunter. Dann erscheinen drei weiße Mädchen in Sommerkleidern. Sie kichern ununterbrochen, stoßen sich mit den Ellbogen an und tun so, als wären sie allein auf dem Bahnsteig. Eins der Mädchen holt einen Taschenspiegel heraus, malt mit einem roten Stift ihre Lippen an und zieht dabei Grimassen wie einer von den kleinen Affen im Zoo, wenn sie um Erdnüsse betteln. Obwohl sie so laut sind, achtet niemand auf die Mädchen, weder der Mann in dem schwarzen Ledermantel noch der Punk, nicht einmal die Ratte.
    Shirin zieht die Kopfhörer des iPod wieder über die Ohren, und da ist es, als wäre ihr Kopf plötzlich ein ganzes Stadion, in dem Rihanna nur für sie singt, so laut und wild, als wollten sie ihr mit ihren Gitarren das Gehirn zerfetzen. Mama will nicht, dass sie solche Musik hört, Lieder von deutschen oder amerikanischen Bands statt Musik von da, wo sie herkommt, Stücke von Fares Karam oder Haifa Wahbi. Nur Onkel Rashido ist erlaubt. Aber selbst dann nimmt Papa ihr manchmal den iPod weg. Sie kriegt ihn allerdings jedes Mal wieder, denn sie ist seine Schneeflocke. Sie

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