Halo
überlebt. Wir trugen Narben, doch wir waren auch stärker geworden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Himmel, den ich kannte, so grausam sein würde, uns wieder zu trennen. Ich wusste nicht, was die Zukunft für uns bereithielt, aber ich wusste, dass wir sie zusammen angehen würden.
Seit Wochen konnte ich nun schon nicht schlafen. Ich saß im Bett und betrachtete die Flecken des Mondlichtes, die über den Fußboden wanderten. Ich hatte den Versuch zu schlafen aufgegeben – jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, glaubte ich, eine Hand zu spüren, die mir über das Gesicht strich, oder einen dunklen Schatten zu sehen, der durch meine Tür kam. Eines Nachts sah ich aus dem Fenster und glaubte, Jake Thorns Gesicht in den Wolken zu sehen.
Ich stieg aus dem Bett und öffnete die Balkontür. Ein eisiger Wind zog ins Zimmer, und ich sah schwarze Wolken am Himmel hängen. Ein Sturm kam auf. Ich wünschte, Xavier wäre hier – ich stellte mir vor, wie er seine Arme um meine Schultern wickelte und seinen warmen Körper gegen meinen presste. Ich würde seine Lippen an meinem Ohr spüren, und er würde mir sagen, dass alles gut würde und er mich immer beschützen würde. Doch Xavier war nicht hier, ich stand ganz allein und spürte die ersten Regentropfen auf meinem Gesicht. Ich wusste, ich würde Xavier gleich morgen früh sehen, wenn er mich zur Schule abholen würde – aber der Morgen schien noch so weit weg zu sein, und die Vorstellung, hier zu sitzen und zu warten, machte mich krank. Ich lehnte mich an das Balkongeländer und saugte die kalte Luft ein. Ich trug nichts außer meinem hauchdünnen Nachthemd, und als der Wind versuchte, mich umzublasen, blähte es sich auf. In der Ferne konnte ich das Meer sehen. Es erinnerte mich an ein schwarzes, schlafendes Tier. Die Wellen stiegen und fielen, als würden sie atmen. Und während der Wind um mich herum heulte, kam mir ein seltsamer Gedanke. Es war, als wolle der Wind mich hochheben, mich fliegen lassen. Ich warf einen Blick auf die Uhr auf meinem Nachttisch; es war nach Mitternacht, also würde die gesamte Nachbarschaft schon schlafen. Einen Moment lang schien es mir, als würde mir die ganze Welt gehören, und bevor ich wusste, was geschah, balancierte ich am Rand des Geländers. Ich reckte die Arme über den Körper. Die Luft war erfrischend kühl. Ich fing einen Regentropfen mit der Zunge auf und lachte darüber, wie entspannt ich mich auf einmal fühlte. Ein Blitz erleuchtete den Horizont, wo sich Himmel und Meer zu treffen schienen. Eine unerklärliche Abenteuerlust erfasste mich – und ich sprang.
Einen Moment lang überlegte ich, ob ich wirklich fiel, bis ich feststellte, dass mich etwas in der Luft hielt. Meine Flügel hatten sich durch das feine Material meines Nachthemds gedrängt und schlugen sanft durch die Luft. Ich ließ sie mich höher tragen und strampelte mit den Beinen wie ein aufgeregtes Kind. Innerhalb weniger Sekunden lagen die Dächer unter mir, und ich tauchte und schoss durch den nächtlichen Himmel. Mittlerweile ließen die Gewitterdonner die Erde erbeben, und Blitze erhellten die Dunkelheit, doch ich fürchtete mich nicht. Ich wusste genau, wohin ich wollte. Den Weg zu Xaviers Haus kannte ich auswendig. Es war ein surreales Erlebnis, über die schlafende Stadt hinwegzufliegen – ich flog über Bryce Hamilton und die vertrauten Straßen um die Schule herum und fühlte mich, als segle ich über einer Geisterstadt. Doch das Wissen, dass man mich jederzeit entdecken konnte, war berauschend. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, mich über den regenschweren Wolken zu verbergen.
Bald stand ich auf dem weichen Rasen von Xaviers Haus. Ich kroch zur Rückseite, auf der Xaviers Zimmer lag. Sein Fenster stand offen, um die Nachtluft hereinzulassen, und seine Nachttischlampe brannte noch. Xavier lag mit seinem Chemiebuch auf der Brust im Bett. Irgendwie sah er im Schlaf so viel jünger aus. Er trug immer noch seine abgetragene Trainingshose und ein weites weißes T-Shirt. Einen Arm hatte er sich unter den Kopf geschoben, der andere lag neben ihm. Seine Lippen waren leicht geöffnet, und ich beobachtete das sanfte Heben und Sinken seiner Brust. Sein Gesicht sah so friedlich aus, als hätte er keine einzige Sorge in seinem Leben.
Ich zog meine Flügel wieder ein und kletterte leise in sein Zimmer. Dann ging ich auf Zehenspitzen hinüber zu seinem Bett und nahm das Buch vorsichtig von seiner Brust. Xavier bewegte sich, doch er wachte nicht
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