Der Ruf des Kookaburra
1
OKTOBER 1859
O h nein!«
Emma Scheerer hob abwehrend die Hände und trat einen Schritt zurück.
»Das kannst du nicht von mir verlangen, Purlimil!«
»So eitel bist du, Emma?«, lachte die schwangere Schwarze, die mit einem Steinmesser auf dem Boden hockte. Ein zweites Mal klopfte sie einladend neben sich. »Setz dich schon hin. Du willst doch alles über uns lernen, oder? Nun, diese Erfahrung darfst du sogar selbst machen, anstatt uns nur dabei zuzusehen. Willst du dir das wirklich entgehen lassen?«
Seufzend ließ Emma die Hände sinken. »Du weißt genau, wie du mich kriegst, nicht wahr?«
»Natürlich.« Purlimil grinste. »Ich kenne dich wie meine kleine Schwester.«
»Und du kommandierst mich genauso herum«, grummelte Emma. Doch dann grinste auch sie. »Also gut, bringen wir es hinter uns. Aber schneid mir nicht den Hals durch, ja?«
Purlimil zog eine Augenbraue hoch, was ihrem schönen Gesicht einen spöttischen Ausdruck verlieh. Kurze Zeit später lagen die ersten hellblonden Locken auf dem mit trockenen Blättern bedeckten Boden des Eukalyptuswaldes. Emma betrachtete sie mit gemischten Gefühlen und versuchte, nicht zurückzuzucken, wenn Purlimils Steinmesser besonders unsanft an ihren Haaren ziepte. Sie würde sich zusammenreißen, auch wenn es schmerzte. Sie war schließlich Forscherin. Und sie hatte in den letzten Monaten weiß Gott schon Unangenehmeres durchgemacht als das hier.
Emma hatte geröstete Maden gekostet, die Männer stundenlang beim Fischfang beobachtet und von den Frauen gelernt, wie man aus bestimmten Pflanzen des Regenwaldes in einer langwierigen Prozedur Medizin machte. Sie hatte beim Herstellen von tödlichen Speerspitzen zugesehen, und sie hatte wieder und wieder Nüsse gewässert, um vor dem Verzehr die Giftstoffe auszuschwemmen. Emma wusch sich im kalten Bach, sie lebte in einem Zelt statt in einem Haus, und sie unterhielt sich täglich mit splitterfasernackten Männern und Frauen, ohne rot zu werden.
Da würde sie es ja wohl überleben, wenn Purlimil ihr die Haare schnitt, damit Emma diesen Alltagsbrauch am eigenen Leibe erfahren konnte! Eigentlich sehr umsichtig von ihrer schwarzen Freundin, sagte sich Emma tapfer.
Eine weitere Locke fiel mit leisem Rascheln auf die trockenen Blätter. Eine sehr lange Locke.
»Reicht es nicht bald?«, fragte Emma und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme kläglich klang.
»Noch nicht«, war die unerbittliche Antwort.
Erst als so viel blondes Haar auf dem Boden lag, dass Emma sich fragte, ob sie überhaupt noch welches auf dem Kopf hatte, ließ Purlimil von ihr ab. Emma war froh, dass es hier im Busch keinen Spiegel gab – und ihr der eigene Anblick somit noch eine Weile erspart bleiben würde.
Die Frauen des Clans waren aufgekratzt und gut gelaunt, als sie nach dem gemeinschaftlichen Verschönerungserlebnis den lichten Eukalyptuswald verließen und mit den Kindern zurück in den Regenwald wanderten. Das abgeschnittene Haar hatten die Frauen sorgfältig zusammengesucht und in einem eigens dafür entfachten Feuer verbrannt.
»Ein fremder Wirrinun, ein Hexenmeister, könnte Übles damit anfangen«, erklärte Purlimil ihrer weißen Freundin und strich sich dabei schützend über den runden Leib.
»Hier lebt doch nur ihr.« Emma runzelte die Stirn. »Wie sollte ein fremder Wirrinun an eure Haare gelangen?«
Nachsichtig blickte Purlimil sie an.
»Ab und zu gibt es Besuche zwischen den Clans, das weißt du doch. Da kann immer mal einer dabei sein, der mit bösen Geistern paktiert. Und dann ist es schlecht um diejenige bestellt, deren Haare er findet.« Purlimil hob belehrend den Zeigefinger. »Wir müssen stets vorsichtig sein, Emma. Mit den Geistern ist nicht zu spaßen.«
»Hmhm«, machte Emma vage.
Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie fremd ihr die Welt der Menschen war, deren Alltag sie nun schon seit Monaten teilte. Die Vorstellung, von Hexenmeistern und bösen Geistern umgeben zu sein, ließ Emma schaudern.
Um sich zu beruhigen, machte sie sich in Gedanken eine Notiz für ihre Forschungsunterlagen.
Verbrennung von Haar aus Angst vor Schadenszauber. Funktion prüfen: Förderung der Hygiene? Stiftung von Gemeinschaft durch Abgrenzung von anderen Clans? Böse Geister/Schadenszauber als Erklärung für Krankheiten?
Der distanzierte Blick, zu dem ihre Arbeit als Forscherin sie zwang, tat Emma gut, und ihr Herzschlag normalisierte sich. Sie nahm sich vor, mit Carl über das Thema zu sprechen. Vielleicht eignete der Glaube
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