Haltlos
dann bleibt er noch cool.“
„Falk hat recht“, stimmte Felix zu. „Jedenfalls ist Custos Portae viel merkwürdiger als Dieck. Und das Gerücht, er könne Gedanken lesen, macht ihn auch nicht gerade normaler.“ Er schaute Falk herausfordernd an.
„Ach“, sagte der mit einem lässigen Grinsen, „dieses Gerücht haben wir spätestens am Semesterende widerlegt! Fred hatte wohl einfach einen schlechten Tag.“
Daraufhin lachten alle.
Nur Victoria war sich nicht sicher, ob Falk damit wirklich recht behalten würde.
Die Geometrievorlesung verlief an diesem Montag ganz normal. Victoria hörte keine Stimmen, dafür begeisterte sie sich immer mehr für die Geometrie. Professor Custos Portae leierte sein Skript nicht so herunter wie andere Professoren, sondern gestaltete die Vorlesung mit anschaulichen Beispielen, Eselsbrücken und so mancher Anekdote sehr lebendig. Sogar Falk hatte bemerkt, dass Custos Portae gut erklären konnte.
Außerdem fühlte sie sich in ihrer Ansicht bestärkt, dass gerade die Geometrie Kunst und Mathematik verband.
Sie war fast enttäuscht, als der Professor die neuen Übungszettel herumgab und damit die Vorlesung beendete.
Kurz bevor sie den Hörsaal verließ, trafen sich ihre Blicke und wieder lächelte er sie an. Das bekannte Glücksgefühl füllte ihren Bauch mit Schmetterlingen.
„Das ist wirklich unglaublich! Weiß der Mann eigentlich, was er da tut?“
Das Lächeln im Gesicht des Professors wurde eine Spur breiter und Victoria wurde das Gefühl nicht los, dass er wirklich Gedanken lesen konnte.
Nach der Geometrievorlesung ging Victoria zusammen mit Kerstin zum Schwarzen Brett, um die Ergebnisse der Klausuren aus dem letzten Semester zu erfahren. Sie stellten sich vor die Listen und suchten nach ihren Matrikelnummern.
Victoria hatte die drei Klausuren, die hier ausgehängt waren, alle bestanden. Sie hatte schon beim Schreiben der Klausuren ein gutes Gefühl gehabt und war über die Ergebnisse jetzt nicht weiter verwundert.
Kerstin war allerdings am Fluchen. Sie war durch Analysis III gefallen und echt deprimiert. „Oh Mist! Aber ich hatte befürchtet, dass ich es nicht schaffen würde. Ich bin schon beim Lernen nicht richtig durch meine Unterlagen gestiegen. Wie soll ich das denn beim zweiten Anlauf schaffen? Die Nachklausuren sind schon in vier Wochen!“
„Keine Panik, Kerstin. Wenn du willst, kannst du dir meine Mitschrift und die Übungen kopieren. Und falls du dann noch Fragen hast, treffen wir uns und ich erkläre die Teile, die du nicht so gut verstehst.“
Kerstin wirkte ehrlich erleichtert. „Oh danke! Mann, ohne dich wäre ich echt aufgeschmissen.“
Victoria freute sich immer, wenn sie ihren Kommilitonen helfen konnte, aber irgendwie war es ihr auch unangenehm, wenn diese dann dankbar waren. Sie kam sich in solchen Situationen ein bisschen wie ein altkluger Streber vor. In der Schule hatten ihre Klassenkameraden sie auch oft genug wegen ihrer guten Noten gehänselt. Das war jetzt zum Glück vorbei. Auch wenn die anderen manchmal stichelten, nahm ihr hier doch niemand die guten Noten übel. Statt geärgert zu werden, wurde sie um Hilfe gebeten und das war Victoria hundert Mal lieber.
Als sie am nächsten Tag kurz vor zwölf an der Uni ankam, war sie schwer bepackt. Sie hatte außer Analysis III auch noch die Skripte und Übungen von Analysis I und II eingepackt – schließlich bauten die Kurse aufeinander auf.
Sie hatte keine Lust, mit dem schweren Rucksack die Treppen zum Seminarraum hochzulaufen, wo sie gleich mit Kerstin die Stochastikübung hatte, und entschied sich für den Fahrstuhl.
Kurz bevor sich die Türen schlossen, betrat Professor Custos Portae mit einem Stapel Bücher ebenfalls den Fahrstuhl.
Ihr Herz machte einen Hüpfer und weckte damit die Horde Schmetterlinge in ihrem Bauch auf.
Er strahlte sie an. „Guten Tag, Frau Abendrot!“
Warmes Glück durchströmte sie bis in die Fingerspitzen. „Hallo, Herr Custos Portae.“
Bevor der Fahrstuhl losfuhr, öffnete sich die Fahrstuhltür erneut und ein Hiwi schob einen Rollwagen herein. „Das wird jetzt ein bisschen knapp, aber Sie sind ja schlank – das wird schon gehen.“
Der Professor verzog ärgerlich sein Gesicht. „Sehen Sie nicht, dass das mit uns und Ihrem Wagen hier drinnen viel zu eng wird?“
Aber in dem Moment schloss sich die Tür endgültig und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.
Es war in der Tat so eng, dass der Hiwi beim Schließen der Tür ins Wanken geriet und
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