Haus der Angst
1. KAPITEL
„W itwe Swift?“ Lucy zog eine Grimasse, als ihre Tochter ihr den neuesten Dorfklatsch erzählte. „Wer um alles in der Welt nennt mich denn so?“
Madison zuckte mit den Schultern. Sie war fünfzehn – und sie saß am Steuer. Auch das war etwas, woran Lucy sich erst noch gewöhnen musste. „Jeder.“
„Und wer ist jeder?“
„Na, zum Beispiel die sechs Leute, die in diesem Kaff wohnen.“
Lucy beachtete den sarkastischen Unterton nicht.
Witwe Swift.
Großer Gott. Aber vielleicht war das ja auch ein Zeichen von Anerkennung. Ein bisschen merkwürdig zwar, doch immerhin. Freilich gab sie sich keinen Illusionen hin: Sie war keine „echte“ Vermonterin. Selbst nach drei Jahren war sie immer noch eine Außenseiterin, noch immer jemand, von dem die Leute erwarteten, dass er jeden Moment seine Sachen packen und zurück nach Washington ziehen würde. Lucy wusste, dass Madison sich nichts sehnlicher wünschte. Als sie zwölf Jahre alt war, da hatte das Leben im ländlich-beschaulichen Vermont für sie noch viele Abenteuer bereitgehalten. Für eine Fünfzehnjährige war es dagegen eine Zumutung. Wenigstens hatte sie jetzt ihren Führerschein. Aber warum konnte sie nicht im schicken Washingtoner Stadtteil Georgetown leben?
„Na gut“, meinte Lucy, „dann sag jedem, dass ich lieber Lucy genannt werde, oder Mrs. Swift oder meinetwegen Ms. Swift.“
„Klar, Mama.“
„Eine Bezeichnung wie ‚Witwe Swift‘ wird man ja nie wieder los.“
Madison schien die ganze Sache so sehr zu amüsieren, dass sie darüber vollkommen ihre Nervosität vergaß, die sie jedes Mal überfiel, wenn sie einparken musste. Sie kam mühelos in einen Parkplatz vor dem Postgebäude im Zentrum des kleinen Vermonter Dorfs hinein.
„Das war ja einfach“, sagte Madison. „Also – Schalthebel auf Parken. Handbremse anziehen. Motor ausschalten. Schlüssel abziehen.“ Sie lächelte ihrer Mutter zu. Für ihren Ausflug in die Stadt hatte sie ein kurzes Sommerkleid angezogen; die dünnen Riemchen-Sandaletten, die sie dazu tragen wollte, hatte Lucy ihr allerdings verboten. „Siehst du? Ich habe nicht einen einzigen Elch angefahren.“
Seitdem sie in Vermont wohnten, hatten sie gerade einmal zwei Elche gesehen, aber keinen von ihnen auf dem Weg in die Stadt. Lucy sagte lieber nichts dazu. „Gute Arbeit.“
Madison sprang aus dem Wagen und lief hinüber zum Dorfladen, um „mal nach den Pantinen zu schauen“. Sie sagte es allerdings mit einem so unschuldigen Lächeln, dass es überhaupt nicht ironisch wirkte. Lucy ging zum Postamt, um einen Stapel Broschüren für ihr Reisebüro zu verschicken. Sie hatte sich auf Abenteuertrips spezialisiert, und ihre Website wurde oft angeklickt. Das Geschäft lief gut, um nicht zu sagen ausgezeichnet. Sie hatte tatsächlich eine Marktlücke entdeckt und begonnen, für sich und die Kinder eine Existenz aufzubauen. Es brauchte eben alles seine Zeit.
„Witwe Swift“, murmelte sie vor sich hin. „Mist.“
Sie wünschte, sie könnte die Bezeichnung mit einem Lachen abtun. Aber so einfach war die Sache nicht. Sie war jetzt achtunddreißig Jahre alt. Colin war vor drei Jahren gestorben. Sie wusste, dass sie eine Witwe war, doch sie wollte nicht so gesehen werden. Im Grunde genommen wusste sie eigentlich überhaupt nicht, wie sie von den anderen gesehen werden wollte. Jedenfalls nichts als Witwe.
Der Ort döste in der Julihitze. Nicht die leiseste Brise bewegte die Blätter der riesigen Ahornbäume auf dem Dorfplatz. Einen Laden, das Postamt, die Eisenwarenhandlung und zwei Bed-&-Breakfast-Pensionen – mehr gab es hier nicht. Manchester, das ein paar Meilen nordwestlich lag, bot beträchtlich mehr Einkaufsmöglichkeiten und Freizeitvergnügen.
Aber Lucy wollte ihre Tochter nicht so weit fahren lassen. Sie hatte ihren Führerschein schließlich erst seit zwei Wochen. Das hatte nichts damit zu tun, dass Madison noch nicht reif war für dichten Verkehr und belebte Straßen. Sie selbst konnte sich noch nicht an den Gedanken gewöhnen.
Als sie ihre Besorgungen auf dem Postamt erledigt hatte, ging sie wie gewohnt zur Fahrerseite ihres allradbetriebenen Geländewagens – ihren „Vermont-Wagen“, wie Madison ihn mit einem Anflug von Spott nannte. Sie wollte einen Jetta. Sie wollte die Stadt.
Seufzend erinnerte sich Lucy daran, dass ihre Tochter den Wagen lenkte. Fünfzehn – das war noch so jung. Sie ging hinüber zur Beifahrerseite und war überrascht, dass Madison noch nicht hinter dem
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