Heavy Cross
Weil sie schizophren war, zum Beispiel. Vielleicht auch, weil es in ihrer Familie bereits lange Zeit so gewaltsam zuging, dass ihr selbst die fürchterlichsten Dinge normal erschienen. Meine GroÃeltern hatten schon immer ein äuÃerst turbulentes Verhältnis gehabt, auch bevor sich das Gericht einschaltete. Einmal war meine GroÃmutter ihrem Mann mit einem Gewehr hinterhergerannt â in der Absicht, ihn zu töten. Ihr Sohn, der noch ein Junge war, hatte sich ihr in den Weg gestellt. »Wenn du das Arschloch beschützen willst, erschieÃe ich dich gleich mit«, hatte sie ihm erklärt.
Meine GroÃmutter war nicht die Einzige, die den Mann töten wollte. Einige Jahre zuvor war es meiner Mutter ebenso ergangen. Da sie sich nicht vorstellen konnte, dass jemals ein Erwachsener auftauchen, eingreifen und sie vor Missbrauch beschützen würde, nahm sich Velmyra vor, ihren Vater zu ermorden. Sie hatte ein Messer, kein Gewehr. Die Waffe war ihrer GröÃe angemessen, und sie hielt sie in ihrer zehnjährigen Hand fest umklammert. Ein Gewehr wäre zu schwer gewesen, sie hätte den Rückstoà nicht auffangen können. Sie mochte Waffen nicht und war eine schrecklich schlechte Schützin. Aber ein Messer war gut. Messer sind heimtückisch, man kann sie verstecken, im richtigen Augenblick zücken und dann zustechen. Sie ging durch den Flur auf das Zimmer zu, in dem sich ihr Vater aufhielt. Doch plötzlich hörte sie eine Stimme, die heiserste Stimme, die sie je gehört hatte. Mach schon, sagte die Stimme, und Velmyra wusste, dass der Teufel zu ihr sprach. Danach gehtâs dir besser, drängte die Stimme, danach ist er weg. Auch Mom wird es besser gehen. Dein Körper wird wieder dir gehören, die Nächte, das Haus, vielleicht sogar dein ganzes Leben. Doch dann mischte sich eine andere Stimme ein, eine ganz und gar nicht hässliche Stimme, geschmeidig und golden. T u âs nicht, riet sie. Dadurch wird nichts besser. In dem dunklen Flur hatte meine Mutter eine Vision. Die schöne Stimme gehörte Gott, der mit dem Teufel um ihre Seele kämpfte. Immer wieder durchfuhr die abscheuliche Teufelsstimme Velmyras Gedanken. Er schob sie weiter, stachelte sie an. Aber etwas vertrieb ihn â und das war Gott selbst, das wusste sie, reine Liebe, süà und unerschütterlich, und sie fühlte sich beschützt. Die gute Stimme erfüllte sie, übertönte das böse Krächzen. Meine Mutter blieb im Flur, ihre verkrampfte und verschwitzte Hand umklammerte immer noch das Messer. Sie war angespannt, erschöpft und hatte entsetzliche Angst. Sie hüllte sich in die gute Stimme ein und kämpfte gegen den Teufel an, bis er schlieÃlich verschwand. Er löste sich einfach auf, verlor sich im Nichts. Und dann war auch Gott nicht mehr da, aber sie spürte seine Wärme noch. Sie drehte sich um, ging langsam durch den Flur zurück und warf das Messer unter das Bett.
Vielleicht war dieses Umfeld schuld daran, dass meine GroÃmutter die Relationen verlor, und vielleicht war sie deshalb in der Lage, ihrem Ehemann wegen eines belanglosen Streits mit einer Schusswaffe zu drohen und andererseits die Nacht vor dem Prozess wegen Missbrauchs der eigenen Tochter mit ihm in einem Hotelzimmer zu verbringen.
Die ganze Welt war gegen Velmyra Estel. So musste es ihr in dem Gerichtssaal jedenfalls vorgekommen sein. Abgesehen von ihrem Anwalt hielt niemand zu ihr. Sie musste sich so klein gefühlt haben, so ungeheuerlich bedeutungslos. Leute traten in den Zeugenstand und sagten gegen meine Mutter aus, bezeichneten sie vor Gericht als Lügnerin. Das Urteil fiel nicht zu ihren Gunsten aus, und ihr Anwalt gab ihr den besten Rat, den er ihr dort an Ort und Stelle geben konnte: Heirate, zieh aus und lass das alles hinter dir. Velmyra Estel, meine Mutter, verlieà den Gerichtssaal, zog zu Tante Jannie und wartete, bis endlich ein Mann auftauchte, mit dem sie eine eigene Familie gründen konnte.
Lange musste sie nicht warten. Als sie fünfzehn Jahre alt war, heiratete Velmyra Estel einen Mann namens Homer Ditto. Mit vierundzwanzig hatte sie bereits drei Kinder von Homer â meine groÃen Brüder Benny und Robbie sowie meine Schwester Akasha â, aber keinen Homer mehr. Die Trennung verlief äuÃerst friedlich â Homer verschwand keineswegs von der Bildfläche, sondern wollte seinen Kindern als Vater erhalten bleiben. Meine Mutter suchte
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