Heile Welt
Lehrer… Im Grunde ja ganz schlau und durchaus leistungsorientiert, sich derart intensiv auf eine Visitation vorzubereiten. – Da hatte er schon ganz andere Sachen erlebt, Sittlichkeitsangelegenheiten, Erpressungen und Griff in die Kasse…«Haut einfach ab?»
Er selbst war doch auch schon einmal ausgerissen, als er keine Lösung mehr sah, lange her, Schwester Gertrud hatte er im Stich gelassen, die seine Blutwerte gefälscht hatte, damit er nicht mehr an die Front mußte, unter Lebensgefahr – und er hatte sie sitzenlassen!
«Das ist ja ein fait accompli, das sich gewaschen hat…», würde
«Egon»vermutlich sagen,«unverständlich… »- Was den herumstehenden Junglehrern ihrerseits unverständlich sein würde.«… Chacun, wie ich immer sage, nach seinem Geschmack», und er würde den Schulvormittag selbst in die Hand nehmen, so war das ja nun nicht, Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, Gedichte aufsagen und Lieder singen lassen und dann den jungen Lehrern zeigen, was eine Harke ist: Kopfrechnen mit der Klasse, das hatte er doch in seiner Lehrerzeit bis ins letzte hinein systematisiert, das würde auch hier seinen Eindruck nicht verfehlen… Aber als Pädagoge hatte er versagt, das würde ihm klar sein in diesem Augenblick, und er wurde traurig.«Weißt du, Annegret», würde er zu seiner Frau sagen,«ich habe da einen Fehler gemacht.»Einen Fehler, der sich nicht mehr würde ausbalancieren lassen.
Matthias machte sich einen Kaffee. Er setzte sich in die Tür des Autos, sah die Weser langsam strudelnd an sich vorüberfließen. Er hätte eine Flaschenpost hineinwerfen können, aber sie wäre nie angekommen.
Das Wolkenbild über dem anderen Ufer war nicht danach, eine Spezialgymnastik einzulegen. Es hätte allenfalls zu segnenden Bewegungen herausgefordert.
Er sah sich die Lebenslinien in seinen Händen an, ziemlich wirr?, dachte er.«Aber interessant.»Das«M»war tief eingeschnitten und mit allerhand Parallelen versehen.«Was da wohl noch alles kommt.»
Als er da so saß, kam ein sogenannter«Anhalter», ein jüngerer Mann ohne Gepäck, und der fragte, ob er mitfahren darf? Matthias schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein und machte ihm ein Brot. Noch ehe er davon berichten konnte, daß bei ihm jetzt der vierte Lebensstart fällig sei, begann der Mann, ihm seine eigene Geschichte zu erzählen. Allerhand Malheur war ihm widerfahren. Durch die Werra geschwommen, die Vopos noch hinter ihm hergeschossen – und nun wolle er nach Osnabrück, wo ein Cousin eine Malerwerkstatt aufgemacht hat. Aber er weiß die Adresse nicht.
Matthias wollte ja eigentlich in die entgegengesetzte Richtung fahren, nach Süden, nach Süden!, wo Schmauch seine Pension verzehrte und das Fräulein Härtel in ihrem rostroten Rock Folianten abstaubte. Aber als er dem Mann da zuhörte, entschloß er sich, ihn auf den rechten Weg zu bringen.«Ich hab’ Zeit», dachte er,«was soll’s?»und er drehte um und fuhr zurück in Richtung Norden. Und während er fuhr, wurde ihm ein Malheur nach dem anderen aufgetischt, diverse Lebensstarts, eine Art Pechvogel hatte er aufgelesen, daran war kein Zweifel.
In Bremen gab er dem Mann dann zehn Mark und ließ ihn aussteigen.«Nur Mut!»sagte er zu ihm,«Sie kriegen bestimmt bald Grund unter die Füße.»Die Adresse des Cousins stehe sicher im Telefonbuch.
Und da er nun schon mal in Bremen war, sagte er noch einmal laut:«Was soll’s?»und fuhr gleich weiter in Richtung Sassenholz, bänglich zunächst, doch zunehmend Mut schöpfend und schließlich sogar lachend: Nach Haus! An die Kinder dachte er, die nun nicht dem Kollegen Stichnoth ausgeliefert werden würden, an die drei Australier, an die dünne Ursula und an Marianne, das liebe Kind. Oder war sie eine Kameradin geworden?
Den Kopf würden sie ihm schon nicht abreißen, schließlich herrschte über einen Sünder, der Buße tut, mehr Freude im Himmelreich als über neunundneunzig Gerechte – so hieß es doch?
Alles frei erfunden!
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1. Auflage
Genehmigte Taschenbuchausgabe Juli 2000
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