Heillose Zustände: Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht (German Edition)
Verschwörungstheorie, sind Reaktionen von Ärzten, Patienten und Arzneimittelexperten auf die »Änderungsanträge zum Gesetzentwurf zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes«. FDP und CDU/CSU haben das Gesetz im Sommer 2010 auf den Weg gebracht. 2011 trat es in Kraft.
Die Hintergründe sind ähnlich vertrackt wie der Versuch, eine Packungsbeilage zusammenzufalten. In Kürze: Seit 2011 ist die schnellere Zulassung von Medikamenten möglich. Die bringt es mit sich, dass neue Tabletten weniger auf ihre Sicherheit und ihre Vorteile für Patienten geprüft sind. Ob neue Arzneimittel Kranken also mehr Nutzen als Schaden bringen, wie es vernünftigerweise verlangt werden sollte, muss nicht erwiesen sein, damit sie auf den Markt kommen. Die Industrie freut sich, denn je kürzer die Zeit bis zur Zulassung, desto geringer die Entwicklungskosten für ein Medikament. Der Nachteil liegt bei den Verbrauchern. Sie tragen das Risiko und sind unfreiwillig Teilnehmer eines gigantischen Freilandexperiments.
Das ist perfide an der gegenwärtigen Medizin: Viele Ärzte und Pflegekräfte geben ihr Bestes für die Patienten, opfern sich in Klinik oder Praxis auf und tragen dazu bei, dass sich die meisten Menschen bei ihrem Arzt gut aufgehoben fühlen. Doch eine Medizinindustrie, die von »Gesundheitspolitikern« unterstützt wird, trägt leider dazu bei, dass Patienten in Gefahr geraten und zu wenig geprüfte Medikamente, zu viele unnötige Untersuchungen und nicht getestete Implantate bekommen. Ein Konzept, das auf mehr Wachstum setzt, ist im Gesundheitswesen fehl am Platz. In der Medizin bedeuten mehr Leistungen nicht automatisch, dass Kranke besser versorgt werden.
Von den etwa 2000 beim Deutschen Bundestag registrierten Lobbyverbänden bearbeiten mehr als 400 das Bundesgesundheitsministerium. In der Gesundheitspolitik scheint es gewollt zu sein, dass die Strukturen kompliziert und wenig transparent sind. Nur so kann weiterhin jede Interessengruppe von dem Milliardenmarkt profitieren. Eine Gesundheitsreform, die diesen Namen verdient, gab es schon lange nicht mehr. Nach medizinischen Kriterien und nach den Bedürfnissen der Kranken wird nicht entschieden. In den Ministerien haben Betriebswirtschaftler das Sagen, in den Kliniken die Kaufleute und Controller. Gute Medizin kommt dabei nicht heraus, sondern nur Interessenpolitik auf Kosten der Patienten.
Die Medizinindustrie
Wahnsinn mit Methode: Zement-Wirbel, Tumormarker, Tinnitustherapie
Für die einen sind sie Spielverderber. Den anderen gelten sie als aufrechte Streiter für eine sinnvolle Medizin, die sich am Nutzen für den Patienten und nicht am Profit der Pharmafirmen, Medizintechnikunternehmen und Ärzte orientieren. Die Waffen im Kampf gegen eine dem ökonomischen Diktat unterworfene Medizin, gegen die Marketingabteilungen der Firmen und Krankenhäuser sind jedoch vergleichsweise stumpf. Lediglich ihre kritische Urteilskraft steht jenen zur Verfügung, die eine bessere Medizin wollen und die in unabhängigen Instituten untersuchen, ob neue Therapien Patienten tatsächlich nutzen oder wie gut die wissenschaftlichen Beweise wirklich sind, wenn in Fachartikeln eine neue Behandlung oder umfangreichere Diagnostik angepriesen wird.
»Manchmal hat man den Eindruck, das ist Wahnsinn mit Methode«, sagt Jürgen Windeler. Seit mehr als zwei Jahrzehnten tritt er für eine wissenschaftlich fundierte Medizin ein. In den 1990ern war er daran beteiligt, die immer wieder am politischen und ökonomischen Widerstand gescheiterte Positivliste zu erstellen, in der statt der mittlerweile 60000 Medikamente auf dem Markt nur 1500 sichere, nützliche und zuverlässige Präparate aufgeführt sind, die Ärzte in der Klinik wirklich brauchen – einer Internistenpraxis würden sogar 500 Arzneien reichen, dem Hausarzt 150.
Seit September 2010 bekommt Windeler den Wahnsinn in der Medizin aus nächster Nähe mit. Er leitet seither das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Köln, das jährlich bis zu 50 diagnostische und therapeutische Verfahren bewertet. Windeler hat Dutzende Beispiele untersucht, in denen der Nutzen einer Behandlung steif und fest behauptet, aber nie belegt wurde. »Die Dreistigkeit, mit der angebliche Vorteile angegeben werden, ist manchmal schon erstaunlich«, sagt der Arzt. »Natürlich ärgere ich mich über die Auswüchse des Systems – und dass es immer wieder ausgenutzt wird.«
Im Jahr 2009 berichtete beispielsweise der
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