Herbstbringer (German Edition)
worauf?
Zunächst schien sich das Problem von selbst zu lösen. Niemand ließ sich blicken. Mehr als genug Zeit, um nachzudenken.
Viel zu viel Zeit, wie sie noch vor dem Morgengrauen zerknirscht feststellte.
Als das graue Licht eines weiteren nebligen Herbsttages durch die Ritzen in den vernagelten Fenstern fiel, wurde sie zunehmend unruhig. Wo steckte Elias nur? Wollte er ihr nicht längst gesagt haben, was als Nächstes passieren würde? Mal ganz abgesehen davon, dass er mehr als einer Frage ausgewichen war.
Seinetwegen steckte sie jetzt hier fest, allein und ratlos, in einem vernagelten Haus irgendwo in London. Draußen suchte man sie, in den Gewölben unter der Stadt trieb ein unvorstellbares Grauen sein Unwesen, und ihre Anwesenheit in diesem heruntergekommenen Versteck hatte den Hausfrieden gehörig in Schieflage gebracht.
Das erste Mal seit ihrer Flucht aus Woods End fragte sie sich, ob sie tatsächlich das Richtige getan hatte.
Als Elias am Nachmittag endlich wieder auftauchte, hatte sie noch immer keine Antwort auf diese Frage gefunden. Erschreckt stellte sie fest, dass es draußen bereits wieder dämmerte. Der letzte Tag war wie ein kaum wahrnehmbarer Augenblick an ihr vorübergezogen. Fühlte sich so die Unsterblichkeit an?
»Es tut mir leid«, begann Elias einen holprigen Entschuldigungsversuch. Es war offensichtlich, wie schwer es ihm fiel. Er hatte sich betont locker im Türrahmen postiert, blickte sie jedoch unsicher an. Ambrose war beim ersten Anzeichen auf einen Neuankömmling wieder hinter seiner Zeitung verschwunden. »Ich hätte dich einweihen sollen.«
Ihrer Meinung nach kam diese Einsicht reichlich spät. »Was machen wir jetzt?«, fragte sie bestimmt. Diesmal würde sie sich nicht kleinkriegen lassen. Sie hatte ein Recht auf Antworten und würde sich nicht länger hinhalten lassen.
Ambrose raschelte auf eine Weise mit seiner Zeitung, die man mit viel Fantasie als Gutheißen interpretieren konnte.
Elias rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er sah müde und abgekämpft aus. »Also gut«, begann er. »Ich weiß es nicht. Lass mich bitte ausreden«, beeilte er sich anzufügen, als er Emilys Gesichtsausdruck sah. »Ich habe mir größtenteils nur darum Gedanken gemacht, dich zu finden und zu verstecken, bevor es die anderen tun. Ich brüte seit Wochen über irgendwelchen Plänen, nur um sie immer wieder zu verwerfen. Es ist nicht so, dass wir keine Möglichkeiten haben, es ist lediglich so, dass es schwerfällt, eine der anderen vorzuziehen.« Er stockte. Langsam hoben und senkten sich seine Schultern. »Von dieser Entscheidung hängt so ungemein viel ab! Soll ich dich hier versteckt halten? Sollen wir fliehen? Sollen wir kämpfen?«
»Um zu kämpfen, müsste ich zunächst wissen, gegen was ich antreten würde.« Sie blickte Elias durchdringend an. »Wer sind die Engel?«
»Die Engel …« Elias ließ die Worte in der Luft hängen wie verzweifelte Gedanken. »Sie sind der Anfang unserer Art. Sie stehen am Anbeginn der Vampire und sind bis heute die unumstrittenen Anführer der vier Vampirfamilien. Wenn sich um jemanden mehr Legenden ranken als um den Herbstbringer, dann um diese vier Vampirväter. Niemand weiß, wie lange sie schon leben, niemand weiß, woher sie kommen. Unsere Mythologie ist ebenso voll von Theorien wie unsere Historie – manche sagen, es sind Hochstapler, die zur richtigen Zeit vor den richtigen Morden nicht zurückgeschreckt sind, andere sagen, es sind die ersten Menschen, die ihre Seele verwirkt haben und seither als Vampire auf dieser Welt wandeln. Wieder andere sind überzeugt davon, dass es sich bei ihnen um die vier Erzengel handelt.«
Die vier Erzengel. Michael, Gabriel, Raphael und Uriel, wenn sich Emily richtig erinnerte. Wie konnte das möglich sein?
»Daher der Name.«
»Daher der Name.« Elias nickte. »Wahrheit oder nicht, ihre Namen stimmen zumindest mit denen aus der Bibel überein. Spinnt man diesen Faden weiter, befindet sich mit Michael der mächtigste der Erzengel hier unter uns in London. ›Wer ist wie Gott?‹, lautet die Übersetzung seines Namens – und in der Tat stellt er sich diese Frage, denn für ihn ist klar, wer an der Spitze der Vampire stehen sollte. Kein Wunder, dass er so versessen darauf ist, dich zu fassen zu kriegen. Wie die anderen drei auch, versteht sich, allerdings gilt er als der besessenste. Diese vier Familien führen Krieg gegeneinander, seit du rebelliert hast. Den Rest kennst du ja.« Er schaute sie
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