Herbstbringer (German Edition)
auszahlte, diese Frage zu bejahen. Selbst dieser gruselige Mann könnte Süßigkeiten in seiner Jacke versteckt haben.
»Oh, wenn das so ist, muss ich euch vielleicht gar nicht bestrafen. Aber das werde ich später entscheiden. Ich hoffe, ihr habt die Wahrheit gesagt.«
Mit langsamen Schritten ließ er die verunsicherten Gesichter hinter sich und betrat das Waisenhaus.
Die gurgelnden Schreie, die kurz darauf zu den Kindern auf die Wiese hinausdrangen, ließen alle Süßigkeitenträume zerplatzen wie buntschimmernde Seifenblasen. Panisch stoben die kleinen Bewohner in alle Richtungen davon, um möglichst viel Abstand zwischen sich und die erstickten Schreie zu bringen.
Keine halbe Stunde später hatte Aaron das Grundstück hinter sich gelassen und befand sich auf dem Weg zurück nach Woods End. Ein lang ersehntes Hochgefühl durchströmte ihn, als er an das Chaos, den Schrecken und all das Blut dachte, das er hinterlassen hatte. Natürlich hätte er nicht vier Menschen töten müssen, um an diese eine Information zu kommen.
Wie ein unheilvoller Wind ließ er das Sheltering Tree hinter sich zurück. Er wusste, was er jetzt zu tun hatte. Und er dachte nicht im Traum daran, Balthasar einzuweihen. Dessen Befehl, die nächsten Tage untätig auf der Lauer zu liegen und auf ihn zu warten, war das Einzige, was seine vortreffliche Laune nach diesem Festmahl ein wenig trübte. Mit jedem weiteren Meter, dem er sich Woods End wieder näherte, wuchs sein Unwille, sich an Gesetze zu halten, die er sowieso noch nie verstanden hatte.
Wäre da nicht dieser elende Fluch gewesen, dessen Existenz selbst Aaron nicht anzweifelte. Nur ein hoffnungsloser Tor würde ihn infrage stellen. Er war der wirkungsvollste Fluch, von dem er jemals gehört hatte. Ein Fluch, ausgesprochen von den vier Ältesten, war mächtiger und schwerer zu brechen als alle anderen Flüche der Vampirwelt zusammen. Mochten die Regeln auch noch so idiotisch klingen … es änderte nichts daran, dass auch er sich daran halten musste. Zumindest so lange, bis er entschieden hatte, ob es vorstellbar wäre, die Konsequenzen dieses Fluches auf sich zu nehmen.
Gleich, nachdem sie von ihrem Besuch bei Jake nach Hause gekommen war, hatte Emily sich in ihr Zimmer verzogen und hörte Tschaikowski. Sie musste herausfinden, wer sie war und was mit ihr passiert war.
Sie atmete tief durch. Dann öffnete sie den Umschlag, den ihr Elias bei ihrem Abschied in die Hand gedrückt hatte. Auf dem Zettel, den er enthielt, prangte nur ein Wort. Es war ihr Name.
Ihr richtiger Name.
Und diesmal war sie vorbereitet, als von allen Seiten Schwärze auf sie einstürmte.
»Levana!« Die melodische Stimme ihrer Mutter drang durch den Wald. Sie hörte nicht darauf. Blitzschnell kletterte sie auf einen Baum, wich spitzen Ästen und Zweigen mit überirdischer Schnelligkeit aus. Schon hatte sie die Baumkrone erreicht.
Sie jauchzte vor Vergnügen, hielt dann erschreckt inne. Sie wollte schließlich nicht, dass ihre Eltern sie vorschnell fanden. Sie wusste genau, dass sie diesem gähnend langweiligen Ball nicht entkommen würde, und wollte wenigstens in den Stunden davor ein wenig Spaß haben.
»Levana, komm auf der Stelle her!«, bellte ihr Vater. Sie musste sich anstrengen, dem autoritären Tonfall nicht gedankenlos zu gehorchen. Wie alle anderen es taten.
Leichtfüßig wie eine Ballerina balancierte sie auf einem der obersten Äste. Die Brandung, die man unten nur hören konnte, war von hier oben sogar zu sehen. Es tat gut, wie der Wind durch ihre langen Haare fuhr. Er trug den salzigen Geruch des Meeres mit sich.
Sie schloss die Augen und breitete die Arme aus. Oft stellte sie sich vor, ein Vogel zu sein, der einfach davonfliegen konnte. Der dieses Leben einfach hinter sich lassen würde und sich in eine neue Welt aufmachte. Kein Benimmunterricht, keine Korsetts, keine Bestrafungen mehr. Und vor allem keine Morde mehr.
»Liebes, sei doch so gut und versteck dich nicht länger. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Sie öffnete die Augen. Wie üblich kamen ihre Tagträume zu einem vorschnellen Ende, wenn sich ihre Mutter ins Geschehen einschaltete. Sie würde sie nie verlassen können. Jedenfalls noch nicht.
Geräuschlos wie eine Feder glitt sie den Baum hinunter. Gute fünf Meter über dem Boden machte sie es sich in einer Astgabel bequem. In einiger Entfernung sah sie ihre Eltern durch den Wald streifen. Sie verstand jedes Wort ihrer hitzigen Unterhaltung – ihrem Vater zufolge ein
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