Herbstbringer (German Edition)
wieder los.«
Der Ernst des Lebens … Emily fragte sich, wie der wohl aussehen würde.
»Hast du gut geschlafen?«, begrüßte Sophie sie am Frühstückstisch. Beide hatten bereits ihre Schuluniformen an, was für Emily sehr ungewohnt war.
»Ja, es ging«, log sie müde. Schon seit Langem litt sie unter Albträumen. Sie kam zwar mit ungewöhnlich wenig Schlaf aus, oft genügten ihr vier, fünf Stunden leichten Dämmerns. Trotzdem hatte sie es letzte Nacht einmal mehr riskiert und sich in das Reich des Schlafes gewagt. An diesem wichtigen Tag wollte sie schließlich fit sein.
Doch die Albträume waren wie immer gekommen. Quälend langsam vorbeiziehende Bilder voller Tod und Dunkelheit, erfüllt von erstickten Hilferufen und manischem Gelächter, verfolgten sie durch die Nacht. Sie endeten immer mit den schreckgeweiteten Augen eines Jungen, die sie auch diesmal schweißgebadet erwachen ließen. Nach so einer Nacht war selbst sie müde. Sie befand, dass ihr halbherziges »Ja, es ging« die Übertreibung des Jahrhunderts war.
»Wo ist die Schule eigentlich?«, fragte sie gezwungen locker. Auch wenn in den letzten Wochen kaum ein Tag vergangen war, an dem sie nicht über den bevorstehenden Schulanfang geredet und mehr als einmal die Läden, Cafés oder das Kino in Woods End angesteuert hatten, wusste sie bislang nur, dass es eine große Gesamtschule war, die diese tristen, dunkelblau-grauen Uniformen vorschrieb.
»Nicht weit von hier, vielleicht zehn Minuten mit dem Auto. Sie liegt auf Dads Arbeitsweg, also fährt er uns.« Sophie verzog das Gesicht. »Das Blöde ist nur, dass wir uns immer seine Musik anhören müssen.«
Emily hatte bereits von dem angeblich furchtbaren Musikgeschmack Carters’ gehört. Und sie brauchte noch nicht mal den ganzen Schulweg, um in eine völlig neue Welt einzutauchen. Chopins zweite Klaviersonate erwischte sie frontal, fegte jegliche Vorstellungen von Musik beiseite, die sie in den letzten zwei Jahren angenommen hatte. Wie konnte Sophie bei dieser offensichtlichen Genialität und so viel Schönheit nur derart leidend das Gesicht verziehen?
Völlig von der Musik gefangen, ließ sie ihren Blick aus dem Fenster in den herbstlichen Wald wandern. Sie hatte den Eindruck, den Blättern praktisch bei ihrer magischen Verfärbung zusehen zu können, derart intensiv begleitete und ergänzte das Farbenspiel die dramatische Musik.
»Schade, dass ich euch ausgerechnet jetzt rauslassen muss«, bemerkte ihr Vater geknickt, als er die Lautstärke runterdrehte und vor der Schule hielt. »Gleich kommt der unvergleichliche Totenmarsch …«
»Äh, ja Dad, danke fürs Fahren und bis heute Abend.« Sophie beeilte sich, aus dem Wagen zu entkommen.
»Viel Glück an deinem ersten Tag!«, rief Carter noch, dann folgte Emily ihrer Schwester mit klopfendem Herzen kopfüber in die nächste Flut neuer Eindrücke. So viele Schüler! Allein oder in kleinen Grüppchen strömten alle dem ehrwürdigen Steingebäude zu, das von jahrhundertealtem Wissen und unzähligen Schülergenerationen kündete. Emily verliebte sich sofort in die Säulen, Türmchen, Wasserspeier und verzierten Fassaden. Ja, hier würde es sich aushalten lassen.
Wirklich? Aus unzähligen Autos dröhnte Musik, es wurde gelacht, gelästert und geflirtet. Emily fühlte sich im gleichen Moment mehr denn je fehl am Platz. Ihr kam der Gedanke, dass es dem alten Gebäude genauso ergehen musste. Leider nur ein schwacher Trost.
Eine Schule hatte sie sich immer ganz anders vorgestellt. Vor allem ruhiger. Würde sie sich hier jemals wohlfühlen? Würde sie eines Tages auch zu dieser Gruppe Mädchen dort hinten gehören, die mit arrogant erhobenen Köpfen noch eine letzte Zigarette vor der ersten Stunde rauchten? Oder wie eine andere Schülerin vor den Augen aller mit ihrem Freund knutschen? Sie konnte es sich nur schwer vorstellen.
»Wieso gehen wir nach links?«, fragte sie verwundert, als sie den eindrucksvollen Bau zusehends hinter sich ließen. »Ich dachte, die Schule beginnt gleich?«
»Und genau deshalb müssen wir uns ranhalten. Wir sind gleich da.« Sophie deutete auf einen Betonklotz, der so viel Klasse und Gemütlichkeit ausstrahlte wie ein Hochsicherheitsgefängnis.
»Oh«, entfuhr es Emily enttäuscht. Sehnsüchtig blickte sie zu dem alten Gebäude zurück. Immerhin erzählte Sophie ihr noch, dass sich darin die Bibliothek befand, bevor der lieblose Neubau die beiden Schwestern schluckte.
Schon die ganze Zeit hatte sie das Gefühl,
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