Echtzeit
Prolog
8. März 1990, Berlin, Prenzlauer Berg
Tom stellte seinen Gitarrenkoffer ab und lehnte sich gegen die Häuserwand. Aus seiner Jackentasche wühlte er ein fast leeres Tabakpäckchen. Geübt drehte er aus den letzten Krümeln eine annehmbare Zigarette und zündete sie an. Eine rauchen. Das sollte ihn wieder runterbringen. Zwei weitere Züge später entspannte er sich sichtlich. Er beschloss, sich zunächst auf den Weg zu seinem Kumpel zu machen. Ein bisschen abschalten, was auf der Klampfe zupfen und vielleicht ein, zwei Bierchen trinken, um den ganzen Scheiß zu vergessen. Seufzend schnappte er sich wieder seinen Gitarrenkoffer und schwang ihn über seine Schulter.
In diesem Moment schepperte es und kurz darauf hörte er das Schluchzen eines Mädchens .
Sofort wandte er sich um und sah vor sich ein Mädchen, verkeilt in einem Fahrrad, auf dem Boden liegen. »Verdammt!« Tom schmiss seine halbgerauchte Krümelkippe weg und stellte den Koffer wieder auf den Boden. Vorsichtig zog er das Rad von der Kleinen herunter und fasste sie behutsam am Arm. »Hast du dir sehr weh getan?«
Sie schniefte lautstark. »Keine Ahnung, aber ja, es tut weh.«
Beherzt half er ihr wieder auf die Beine. »Zeig mal her.« Er beugte sich vor und beäugte schuldbewusst den Schnitt unter ihrem Auge. »Du blutest.« Scheiße! Als wenn nicht schon genug Probleme zu Hause auf ihn warteten. Gerade erst hatte er sich mit seinen Eltern gestritten, weil er es vorzog, lieber Musik zu machen statt einer vernünftigen Ausbildung.
»Aua!« Das Mädchen befühlte seine Wunde.
»Warte, lass mich das machen.« Tom kramte ein sauberes Taschentuch aus seiner Jacke hervor. Mehr als vorsichtig rieb er den Schmutz rund um die Wunde weg. »Wie heißt du?«, murmelte er, hoch konzentriert auf sein Tun.
»Nina ... Autsch!«
»Entschuldige.« Es half alles nichts, er musste dafür jetzt geradestehen, denn das Mädchen hatte ein wenig mehr, als nur einen Kratzer. »Wo wohnst du?«
»Nur zwei Straßen weiter.« Sie zeigte in die Richtung hinter sich.
»Gut.« Er griff sich seinen Gitarrenkoffer und das Fahrrad des Mädchens, das durch den Sturz leicht lädiert war. »Dann komm, Nina.«
»Sagst du mir auch, wie du heißt?« Sie zog einen Mundwinkel schief nach oben, was wohl ein Lächeln andeuten sollte.
»Tom.«
»Tom«, wiederholte sie, »cool.« Sie deutete auf seinen Gitarrenkoffer. »Ist das deine?«
Tom nickte nur und hob nun das Vorderrad des silbernen Rades an.
»Meine Eltern schenken mir vielleicht zu meinem Geburtstag auch eine, ich find' Gitarre spielen nämlich total cool.«
»So findest du?« Er grinste. »Wann hast du denn Geburtstag?«
»Am 17. Mai«, verkündete sie stolz, »dann werde ich elf.«
Kapitel 1
16. Mai 1997, Nürburgring
Total aufgekratzt hüpfte Nina in ihrem karierten Kleid und den gelben Gummistiefeln durch den Matsch. Eigentlich wollte sie jetzt mit ihren Freunden das Konzert von Supertramp verfolgen. Doch der wolkenbruchartige Regen und das damit einhergehende Gewitter machte der Gruppe einen Strich durch ihre Planung. Ein Blitzeinschlag hatte die gesamte Stromversorgung lahmgelegt, sodass der Auftritt bis auf Weiteres verschoben wurde. Eine halbe Stunde harrten die Freunde noch aus, entschlossen, sich dann aber in ihr trockenes Zelt zurück zu ziehen. Der gesamte Zeltplatz glich einer Sumpflandschaft und die Gruppe konnte es kaum erwarten, den Biervorrat im Trockenen weiter schrumpfen zu lassen.
Nach einem halbstündigen Fußmarsch, der immer wieder durch Gespräche mit fremden Konzertbesuchern unterbrochen wurde, erreichte Nina mit ihrem Trupp ihre provisorische Behausung für die nächsten Tage.
Es war ihr erstes Rock am Ring nur mit ihren Freunden. Ihre Eltern waren zwar nicht weniger musikverrückt als sie selbst – schließlich waren sie Berufsmusiker – ihr Vater meinte jedoch, dass er langsam vielleicht zu alt wurde, um betrunken im Matsch herum zu wanken. Außerdem sollte sie in einer Stunde endlich 18 Jahre alt werden, was sie mehr als nur freute.
Sie schnappte sich eine Dose und fläzte sich in den klapprigen Campingstuhl. Geschickt öffnete sie ihr Bier, setzte an und erntete schadenfrohe Lacher ihrer Freunde, als ihr der eiskalte Gerstensaft unkontrolliert am Kinn runter lief. Großkotzig hielt sie ihren Mittelfinger in die Runde, dann ließ sie sich ein Handtuch reichen, mit dem sie auch gleich ihre regennassen Haare ein wenig trocknete. Nach dem fruchtlosen Versuch, ihre
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