Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herbstfrost

Herbstfrost

Titel: Herbstfrost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Gracher
Vom Netzwerk:
sind blau. Er trifft dich sicher, und
er trifft dich genau.
    Idiotisch! Warum fiel ihr gerade jetzt dieser makabre KZ -Spruch wieder ein?
    Verstohlen blickte sie sich um. Der Weg zurück ins Tal verlor sich
nach wenigen Metern in den hohen Latschen, und die Senke, in welcher der
Bergsee lag, schränkte die Sichtweite zudem stark ein.
    Ob noch andere Touristen heute hierherkamen? Bestimmt. Aber wann?
Wer sonst stand schon um vier Uhr morgens auf, um zum Reedsee zu wandern?
    ***
    Beinahe hätte sie ihren Tee verschüttet. Der Blonde, der ihr am
nächsten saß, hatte sie beobachtet und ihre nervösen Blicke bemerkt. Ohne den
Kopf zu bewegen, sagte er: »Otti, geh hinauf auf den Hügel und sieh nach, wo
der Heimo bleibt.«
    Der Angesprochene, ein schmächtiger Jüngling mit dunklem
Bürstenhaarschnitt, grinste breit und schaute ebenfalls zu Sarah Feldbach
hinüber, bevor er sich erhob und zwischen den Latschen verschwand.
    Nach zwei Minuten, die ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen waren, rief
er von oben herunter: »Der Heimo ist nirgendwo zu sehen, Rolf!« Für Sarah
Feldbachs Ohren klang es wie: Es wird uns niemand in die Quere kommen.
    Quatsch, so klang es nicht! So durfte es einfach nicht klingen!
Warum reimte sie sich das zusammen? Das grenzte ja schon an Verfolgungswahn.
Nein, das war bereits Verfolgungswahn!
    Gab es denn irgendeinen Anlass für ihre Panikattacke? Was war bisher
schon passiert? Nichts! Das waren nur drei junge Männer, die einen Ausflug
machten, eine Bergpartie, und jetzt auf ihren Kumpel warteten. Und anschließend
würden sie weitergehen, zur Scharte hinauf. Ganz bestimmt würden sie
weitergehen.
    Der gedankliche Strohhalm, an den sie sich klammerte, hielt gerade
mal zehn Sekunden. Dann packte Rolf seine Jause weg, stand auf und kam auf sie
zu. Wie hypnotisiert starrte Sarah Feldbach auf den Zahnstocher, der zwischen
seinen Zähnen auf und ab wippte. Sie wollte ebenfalls aufstehen, wollte
davonlaufen, konnte aber nicht. Sie war nicht imstande, auch nur einen Finger
zu rühren.
    Ich muss irgendetwas sagen, schoss es ihr durch den Kopf. Mit großer
Überwindung lächelte sie das jugendliche Ungeheuer an. »Wunderschön, so ein
Sonnenaufgang, nicht wahr?« Ihre Stimme war ruhig und gefasst – so wie immer,
stellte sie erstaunt fest.
    Rolf ließ eine kleine Ewigkeit verstreichen, ehe er sich zu einer
Antwort bequemte. Den Zahnstocher nahm er dabei nicht aus dem Mund. »Wir sind
nicht wegen des Sonnenaufgangs hier.«
    Damit hatte er ihr die nächste Frage in den Mund gelegt. Sie konnte
ihr nicht ausweichen. »Nein? Und warum dann?«
    Diesmal antwortete er sofort: »Soviel wir wissen, sind Sie eine
reiche Witwe, Frau Feldbach. Gehören zu den EBI s,
wie das in unserem Jargon heißt.« Jetzt nahm er doch den Zahnstocher aus dem
Mund. »Was soll ich lange herumreden? Man hat uns den Auftrag erteilt, Ihnen
Sterbehilfe zu leisten.«
    Er klang dabei höflich bedauernd, so wie ein Portier, der auf
Nachfrage antwortet: Nein, tut mir leid, es hat niemand für Sie angerufen. Noch
immer sah er durch sie hindurch, als fixierte er eine Person, die sich irgendwo
hinter ihr befand. In seinen blaugrauen Augen war nichts zu lesen, jedenfalls
nicht, dass er sich nur einen geschmacklosen, makabren Scherz mit ihr erlaubte.
Die Augen waren glanzlos. Scharführer Pfeiffer hatte solche Augen gehabt.
    Obwohl es in ihrem Kopf zu rauschen begann, zwang sie sich
weiterzusprechen: »Was ist das, ein  EBI ?«
    » EBI ist die Abkürzung für
›etatbelastendes Individuum‹. Europa ist bekanntlich hoffnungslos überaltert,
Frau Feldbach. Wenn Sie den Löffel abgeben, ist das zwar nur ein Tropfen auf
die überhitzten Pensionskassen, aber immerhin ein Schritt in die richtige Richtung.«
    Sie wollte schreien, nur mehr schreien. War dieser kollektive
Wahnsinn denn nie zu Ende? Fand er immer wieder neue Nahrung – und neue Opfer?
    »Warum gerade ich?«, fragte sie, anstatt zu schreien.
    »Wenn es Sie tröstet: Sie sind nicht die Einzige. Zu viele alte und
unproduktive Leute bekommen zu viele und zu hohe Pensionen. Am Grund des
Reedsees brauchen Sie kein Geld mehr, Frau Feldbach. So dienen Sie dem Staat am
besten.«
    »Woher kennen Sie meinen Namen?«
    Es war eine naive, eine idiotische Frage. Sie entsprang allein der
Angst, das Gespräch könnte jeden Augenblick zu Ende sein. Doch Rolf schien es
nicht eilig zu haben.
    »Wir bekommen Listen mit den Daten der Leute, die zu entsorgen sind.
Auf einer dieser Listen steht Ihr Name. Ganz

Weitere Kostenlose Bücher