Herr Tourette und ich
Gefahr auf, und die Gefahr wagt es nicht, dich aufzusuchen.
Außerdem verdiene ich wenig, aber ehrlich versteuertes Geld. Und ich gehe das Risiko ein, Frauen zum Essen einzuladen. Wenn ich das Gefühl habe, dass die Gedanken stabil sind, dass sie sich in einer stabilen Phase befinden, dann bin ich auch bereit, mit den Frauen nach Hause zu gehen. Ich entdecke, dass ich gern den Körper von jemand anders berühre, taktile Stimulanz und reine Lust in einem Paket. Auch der ständig wiederkehrende Freiheitsgedanke spielt eine Rolle – man stelle sich vor, dass mir erlaubt ist, das zu tun! Ich mag es auch, wenn andere mich anfassen, auch wenn ich manchmal ein Expressritual ausführen muss, wenn sich ihre Hand den südlichen Teilen meines Körpers nähert, was dann oft damit endet, dass die Verbindung nach Süden abgekoppelt wird. Und wieder muss ich mir Entschuldigungen ausdenken, und ich verfluche mich selbst, die Zwänge, die Tics, die Krankheit, den Superidioten. Der selbstverständliche Höhepunkt ist also nicht der sexuelle, sondern einfach dicht bei jemand anders zu liegen, am Morgen aufzuwachen und jemand anders im Zimmer herumgehen zu hören, wie er Kaffee macht, duscht, telefoniert. Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen, und ich werde mich auch nie daran gewöhnen wollen. Ich genieße es, mit jemandem zusammen zu sein, der eine Woche oder zwei oder vier nur mit mir zusammen sein will. Dabei bin ich so persönlich, wie ich nur kann. Aber wenn sich aus meinem Körper private Verbindungen zu spinnen beginnen, dann denke ich mir Fluchten aus – muss auf Tournee, Überstunden, es liegt nicht an dir, sondern an mir, ich muss mal eine Weile allein sein. Oder ich mache mich unsichtbar, gehe nicht ans Telefon, vermeide Cafés und Kneipen, verschwinde eine Woche oder fünf völlig spurlos. Und das funktioniert. Warum sollte man ein erfolgreiches Konzept verändern? Vertrauen ist ein Luxus, den ich mir noch nicht leisten kann.
Während besserer Zeiten schaffe ich es, sozial zu funktionieren und neue Freunde zu gewinnen. Freunde, die mich seither begleiten. In einer Zeit, als ich notwendig mit anderen Menschen als mit mir selbst zusammen sein musste, haben sie mich gemocht und ich sie.
Das Theater gibt mir ein gewisses Selbstvertrauen, ich mache mich ziemlich gut, erlange eine gewisse Anerkennung. Alles, was ich tue, gründet auf Intuition und Improvisation. Ich setze eigene Stücke auf, schreibe eigene Texte, das alles nach meinem Kopf. Ich arbeite auch mit Standup-Comedy, das ist eine gute Methode, den Energien Auslauf zu verschaffen und die Tics zurückzuhalten. Es ist mir relativ egal, ob ich witzig bin, zumeist geht es darum, zusätzliches Geld zu verdienen und eine Form der Identität zu gewinnen. Und das funktioniert, es funktioniert so weit, dass ich Schwarzgeld aufs Konto kriege und durch die Lande reise und so tue, als ob ich witzig wäre.
(1993, Ostern) Ich bin zu Hause und überquere Türschwellen. Meine Familie lacht die meiste Zeit, genießt es, dass der Bruder und Sohn wieder angefangen hat zu leben. Sie sehen jetzt mit eigenen Augen, dass ich lache, ohne mich anzustrengen, dass ich dusche, weil ich es will. Es wird das beste Osterfest, das wir je hatten.
(1993, ein Sommermorgen) Meine Mutter ruft an:
»Ich muss etwas Schreckliches erzählen …«
Papas Herz konnte nicht mehr. Ein millimeterdicker Blutpropfkopf hat dafür gesorgt, dass Papas Herz nicht mehr frei schlagen konnte. Er war gezwungen, sich fortzubegeben, viel zu früh, viel zu plötzlich. Die Trauer ist so schwer und schmerzhaft, und so verdammt aufdringlich. Aber ich habe keine Angst vor der Trauer, und vor dem Schmerz ebenso wenig. Sie hängen zusammen und bilden ein Radarpaar, das so viel friedlicher und so viel freundlicher ist als das Radarpaar Zwänge/Rituale. Papa wird immer da sein, die Zwänge werden verschwinden. Das verspreche ich dir, Vater.
Mitten in der Trauer begreife ich, dass Papa miterleben durfte, dass der Junge gesund geworden ist, dass der Junge noch gesünder werden wird und dass er selbst damals vor langer Zeit Recht hatte – es gibt Tourette hier bei uns. Dieser Gedanke hilft mir, wieder von Neuem zu beginnen. Jetzt ohne meinen Vater.
Alles geht weiter, neue Schritte und alte Routinen wechseln sich ab. Wenn die Rückfälle kommen, ziehe ich mich zurück, bleibe meist für mich, nehme einen Zug irgendwohin.
Wieder einmal müssen Lasse und ich alte Übungen wiederholen, neue Perspektiven entdecken, alte
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