Herrentier
regionales Dauerthema. Alles hatte damit begonnen, dass ein norwegischer Konzern die Werft zu Beginn der neunziger Jahre kaufte und anschließend modernisierte – mit Hilfe von einer Milliarde DM Subventionsgeldern. Gregor erinnerte sich, dass gut zehn Jahre später der Mutterkonzern in finanzielle Schwierigkeiten geriet, weil eine Investition in Großbritannien misslang. Da herrschte natürlich gewaltige Aufregung im Lande. Neue Geldgeber wurden gesucht und gefunden. Doch leider war das nicht das glückliche Ende. 2008 kaufte ein windiger Russe die Werft mit, wie es hieß, ergaunertem Geld. Mantraartig hatte er damals ein goldenes Zeitalter beschworen, indes stand 2009 der Welthandel still. Aufträge platzten. Die Werften in Rostock und Wismar meldeten Insolvenz an. Knockout nach vielen Schiffbaujahrzehnten. Doch Rettung nahte, in Gestalt der Bundeskanzlerin und des russischen Präsidenten, die einen Deal einfädelten, wonach der Sohn eines ehemaligen russischen Ministers neuer Besitzer der Werften wurde. Tausende Arbeitsplätze fielen dem sich anschließenden strukturellen Umbau zum Opfer. So konnte man die Geschichte zumindest in der Presse verfolgen.
Der Alte lachte kurz auf, nicht amüsiert, mehr weil ihm offenbar etwas eingefallen war, an das er schon lange nicht mehr gedacht hatte.
»Den einen Russen haben sie dann ja auch abgeknallt.« Auch Gregor trat die Schlagzeile wieder vor das innere Auge. Investor und Frau in Moskauer Restaurant von Auftragskiller ermordet.
»Ja, richtig«, meinte Gregor. »Fünf Gummigeschosse ins Gesicht und in die Brust, aus nächster Nähe.«
Der andere sah ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Betroffenheit an. »Wie er immer da stand mit sein blödes Gegrinse und seine gepunktete Krawatte. Dieser Lackaffe! Aber mit Gummi erschossen? Das wünscht man ja seinem ärgsten Feind nich.« Nachdenklich schob er mit seinen schweren Lederschuhen ein paar abgefallene Blätter beiseite. Er hob einen kleinen Stein auf, der im Blumenbeet aus Gärtnersicht nichts zu suchen hatte, und feuerte ihn in Richtung Gehweg. »Nicht einen Auftrag hat er gebracht, nur heiße Luft.«
Er machte jetzt eine zackige Handbewegung in Richtung der Zypressenwand, eine nahezu südländische Geste für einen Norddeutschen, um alsbald zur jüngeren Geschichte Ostdeutschlands überzuleiten: »Die DDR wurde ausgeschlachtet wie ein geklautes Auto«, meinte er in konspirativem Tonfall.
Gregor überlegte, wie er den Vergleich finden sollte, doch bevor er zu einem Ergebnis kam, lüftete der Alte seinen Hemdkragen und beugte sich zu ihm herüber, als hätten die Hecken nun Ohren bekommen. »Und weißt was? Henning hat das Beste draus gemacht. Cleverer Jung! Hat ein Tipp von einem Herrn Professer gekriegt und sich wat Eigenes aufgebaut.« Er holte kurz Luft, wischte sich nun mit einem karierten Stofftaschentuch über das Gesicht und erzählte von seinem Glück, vorzeitig in die Rente zu dürfen. »Besser ging nich. Fünf Jahre vorher und ich hätte all
das hier vergessen können.« Stolz drehte er sich zu seinem Fertigteilhaus und hielt zum ersten Mal mit dem Reden inne.
Andächtig starrten sie auf die rotbraunen Klinker wie auf ein Fresko von Michelangelo. Gregor verspürte ein schlechtes Gewissen, weil er Leuten wie diesem Mann hier für gewöhnlich nur Hochmut entgegenbrachte. Sie hegten etwas, das in seinen Augen spießig und stillos war. War er damit nicht arrogant und selbst kleingeistig? Ehe Gregor sich in Selbstkritik verlieren konnte, machte sich sein Magen erneut bemerkbar.
»War das deiner?«
Gregor klopfte sich verlegen auf den Bauch. »Ich fürchte, ja. Ich wollte mich gerade nach etwas Essbarem umschauen.«
»Hier, in Kassebohm?« Der Mann lachte. »Na min Jung, da biste aber inne falschen Straße. Ich hab den Grill angeschmissen. Komm rin. Bei Hans ist noch keiner verhungert. Hatte schon was drauf, die Briketts glühen noch.« Den letzten Satz sang er fast. Er gab Gregor einen freundschaftlichen Schlag gegen den Bauch, griff zu seiner Harke und ging voran. Gregor bemerkte seine Atemgeräusche, als ob dem Mann die kleinste Drehung Schmerzen bereitete.
»Das Fahrrad nimm mal lieber mit. Aber hier vorn! Ne, du weißt! Schön vorsichtig! Ich sach nur Stockrosen«, rief der Alte Gregor über die Schulter zu.
Hinter einer mannshohen Hecke standen Spielgeräte, Schaukel, Rutsche, Sandkiste. Alle aus knalligem Plast.
»Sie haben wohl Enkelkinder?«, fragte Gregor laut.
»Ja, der Große hat
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