Tierische Profite: Commissario Brunnetis einundzwanzigster Fall (German Edition)
1
Der Mann lag reglos da, so reglos wie ein Stück Fleisch auf dem Schlachtertisch, reglos wie der Tod selbst. Im Raum war es kalt, und doch war er, von Kopf und Hals abgesehen, nur mit einem dünnen Laken zugedeckt. Seine Brust war übermäßig nach oben gewölbt, als habe man ihm eine Stütze unter den Rücken geschoben. Wäre diese weiße Gestalt eine schneebedeckte Bergkette und der Betrachter ein müder Wanderer, der am Ende eines langen Tages dort noch hinübermüsste, so würde er doch lieber den weiten Umweg über die Knöchel nehmen. Der Aufstieg über die Brust wäre zu steil, und wer konnte wissen, welche Schwierigkeiten einen beim Abstieg auf der anderen Seite erwarteten?
Von der Seite fiel die unnatürliche Wölbung der Brust ins Auge; von oben – stünde der Wanderer jetzt auf einem Gipfel und könnte auf den Mann hinabsehen – war es der Hals, der einen sonderbaren Eindruck machte. Der Hals, oder vielleicht genauer: dass er keinen hatte. Tatsächlich war sein Hals ein breiter Pfeiler, der von den Ohren abwärts senkrecht in die Schultern überging. Keine Verengung, keine Einbuchtung; der Hals war so breit wie der Kopf.
Auffällig war auch die Nase, die im Profil kaum noch in Erscheinung trat. Sie war eingedrückt und schief; die Haut mit Kratzern und winzigen Kerben übersät. Auch die rechte Wange war zerkratzt und blutunterlaufen. Das ganze Gesicht war aufgedunsen, weiß und schwammig. Von oben war das Fleisch unterhalb der Wangenknochen tief eingefallen. Sein Gesicht war nicht nur totenbleich. Dieser Mann hatte sein Leben in geschlossenen Räumen verbracht.
Der Mann hatte dunkles Haar und einen Kinnbart, der wahrscheinlich den Hals kaschieren sollte, aber so ein Hals ließ sich keine Sekunde verbergen. Der Bart fiel zwar ins Auge, aber dann bemerkte man auch sofort die Absicht, denn er wuchs über die Kieferlinie hinaus, als wüsste er nicht, wo er aufhören solle. Von hier oben aus schien er sich sogar über den Hals und seine Seitenpartien ergossen zu haben, ein Eindruck, den die allmählich weißer werdenden Bartausläufer noch verstärkten.
Die Ohren waren überraschend zierlich, fast wie die einer Frau. Ohrringe hätten nicht mal fehl am Platz gewirkt, wäre da nicht der Bart gewesen. Unter dem linken Ohr, unmittelbar hinter dem Bartansatz, verlief im Winkel von dreißig Grad eine rosa Narbe. Etwa drei Zentimeter lang und breit wie ein Bleistift; die Haut war uneben, als sei derjenige, der sie genäht hatte, in Eile gewesen, oder nachlässig, als komme es bei einem Mann nicht so darauf an.
Es war kalt im Raum, zu hören war nur das mühsame Keuchen der Klimaanlage. Der mächtige Brustkorb des Mannes hob und senkte sich nicht, er fröstelte auch nicht in dieser Kälte. Er lag da, nackt unter seinem Laken, die Augen geschlossen. Er wartete auf nichts, denn über das Warten war er ebenso hinaus wie darüber, pünktlich oder zu spät zu kommen. Fast könnte man sagen, der Mann war einfach nur. Aber das wäre nicht richtig, denn er war nicht mehr.
Zwei weitere Gestalten lagen ähnlich zugedeckt in dem Raum, näher an den Wänden: Der Bärtige lag in der Mitte. Wenn jemand, der immer lügt, erklärt, er sei ein Lügner, sagt er dann die Wahrheit? Wenn niemand in einem Zimmer am Leben ist, ist dann niemand im Raum?
Eine Tür am anderen Ende wurde geöffnet und von einem großen schlanken Mann in einem weißen Laborkittel aufgehalten. Er ließ einem anderen Mann den Vortritt und dann erst die Tür hinter sich los; langsam glitt sie zu und schloss sich mit einem in dem kalten Raum deutlich vernehmbaren Schmatzen.
»Er liegt da drüben«, sagte Dottor Rizzardi und ging Guido Brunetti, Commissario di Polizia der Stadt Venedig, voraus. Brunetti hielt wie der imaginäre Wanderer inne und betrachtete den weiß bedeckten Bergkamm, den der Körper bildete. Rizzardi trat an den Tisch, auf dem der Tote lag.
»Er bekam drei Stiche ins Kreuz, mit einer schmalen Klinge, keine zwei Zentimeter breit, würde ich sagen. Und der Täter wusste genau, was er tat, oder er hatte großes Glück. An seinem linken Arm sind zwei kleine Druckstellen«, sagte Rizzardi und blieb neben der Leiche stehen. »Und er hat Wasser in der Lunge«, ergänzte er. »Demnach lebte er noch, als er in den Kanal gelangte. Aber der Mörder hat eine Hauptvene erwischt: Er hatte keine Chance. Er ist binnen Minuten verblutet.« Grimmig fügte er hinzu: »Bevor er ertrinken konnte.« Der Pathologe kam Brunettis Frage zuvor: »Tatzeit
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