Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
A
ls Junge habe ich morgens manchmal regungslos und mit geschlossenen Augen versucht zu rekonstruieren, wie ich im Bett liege. Ich wollte in der Dunkelheit herausfinden, ob ich mich im Schlaf zur Wand oder zum Fenster oder sogar vom Kopf- zum Fußende gedreht hatte. Ich war ein kleiner, blinder und gefesselter Detektiv. Die Lage ist heute nicht mehr mein Problem, die Frage ist vielmehr, wo das Bett steht.
Es ist dunkel, ich halte die Augen geschlossen, ich will nicht wach werden. Augen geschlossen halten, ist meine Taktik, um den Jetlag zu bekämpfen, und meine Frau würde sagen, dass es die Taktik meines Lebens ist. Augen schließen und warten, bis die Dinge sich glätten.
Das Bett steht in Amerika, so viel ist klar, aber ich bin noch auf der Reise. Ich treibe im Zeitstrom. Ich habe noch nie eine Schlaftablette genommen und auch noch nie eine dieser Melatoninkapseln, die mir von allen Seiten empfohlen werden, vor allem von meiner Mutter. Ich will kein Melatonin, es klingt mir zu sehr nach Methadon. Ich kann es auch ohne Melatonin schaffen. Ich habe auf meinen Reisen in andere Zeitzonen nachts um vier im Hotelfernsehen uralte Sitcoms oder asiatische Tennisturniere gesehen, ohne ungeduldig zu werden oder gar panisch. Ich schwitze es aus wie ein Indianer. Ich öffne die Minibar. In den zwei Jahren, die wir in Amerika leben, bin ich bestimmt zwanzig Mal über den Atlantik geflogen. Ich schleppe die Zeit hinter mir her wie eine Eisenkugel. In Deutschland bin ich immer der letzte Gast an der Bar, in Amerika der Erste im Bett. Das Bett steht in Amerika, richtig. Ich bin seit anderthalb Tagen zurück in New York, aber ich bin noch nicht da.
Ich lausche in die Dunkelheit hinein nach Anzeichen für die Zeit.
Keine Vögel, noch keine Vögel, aber da ist ein Rauschen ganz hinten, das von der 4 th Avenue kommen könnte oder vom Brooklyn Queens Expressway, dort wo die Stadt wach wird. Es könnte um vier sein. Es sind noch keine Flugzeuge zu hören. Die Route nach La Guardia führt direkt über unseren Hinterhof. Meine Augen sind geschlossen, das Windspiel unserer Nachbarn Mike und Roxy klimpert leise. Es hat mich in den ersten sechs Wochen, die ich noch allein in dem Haus wohnte, fast in den Wahnsinn getrieben. Mike ist ein irischer Bauarbeiter, der seinen Nachbarn – all den Anwälten, Ärzten, Schauspielern, Künstlern, Wissenschaftlern und Autoren – beweisen will, dass er es geschafft hat. Er lässt seine Tochter Erin nach dem Abendessen auf der Terrasse Querflöte spielen. Wenn Erin endlich still ist, übernimmt das Windspiel. Ein Geräusch wie aus einem Horrorfilm. Es klimpert nur müde, der Sturm von gestern Abend wirkt wie ein Traum. Ich erinnere mich an den Regen, weil er mir zeigte, dass ich auf einem anderen Kontinent lief. Ein dichter, heftiger Regen, den es so zu Hause in Deutschland nicht gibt. Es fällt hier einfach viel mehr Wasser aus dem Himmel. Sie nennen es
rain storm
. Ich bin in den Regensturm gerannt, gestern Abend.
Es war natürlich keine gute Zeit zum Laufen, weil sie das Unwetter vorhergesagt hatten, und dann war ich ja auch gerade erst aus Deutschland zurückgekommen. Die Kinder hatten mich fast zwei Wochen nicht gesehen, Anja hatte das Abendessen so gut wie fertig. Aber ich brauche die Kilometer, ich will im November den New York Marathon rennen. Es ist eine Sucht. Ich muss. Normalerweise laufe ich die sechs Kilometer in einer knappen halben Stunde, aber als ich halb um den Park herum war, regnete es so heftig, dass es mir beinahe die Kontaktlinsen aus den Augen spülte. Ich stellte mich unter einen der riesigen Bäume im Prospect Park. Als es anfing zu donnern, rannte ich dann doch weiter, weil ich nicht genau wusste, ob man bei Gewitter unter Bäumen stehen soll oder nicht. Ich habe das mal gelernt, aber vergessen. Ich weiß noch, dass man besser nicht mit einer Sense in der Hand über ein freies Feld gehen soll. Ich weiß auch noch, wie man anhand von Ameisenhaufen die Himmelsrichtung bestimmen kann, aber die Sache mit dem Baum habe ich vergessen. Ich habe fast alles vergessen. All die Formeln, die ich mal gelernt habe, all die Vokabeln und die Definitionen. Ich wusste mal, wie ein Emscherbrunnen funktioniert, und konnte die Hauptaufgabe des Sozialismus auf Russisch hersagen. Jedenfalls rannte ich dann weiter. Ich war klitschnass, als ich ankam, aber da war kein Mitgefühl in den Augen meiner Frau.
Sie war mit den Kindern im Bad und sah die lange Treppe hinunter, an deren Fuß
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