Heute Und in Ewigkeit
Bissen von meinem Sandwich.
»Bitte, ich kann heute wirklich keinen Kummer mehr vertragen.« Sie schlürfte laut einen Schluck Kaffee, wie zum Beweis. »Ich sage dir, die Schwestern kümmern sich gut um Merry. Ich hab es selbst gesehen.«
»Wann denn dann?«
»Bald. Vielleicht kann Tante Cilla morgen mit dir hingehen.«
»Tante Cilla geht da nicht hin.« Außerdem wollte ich nicht mit ihr hingehen. Schwierige Dinge wurden mit der Schwester meiner Mutter unerträglich.
»Sie wird schon gehen, sie wird schon gehen.« Mimi Rubee seufzte tief und feucht.
»Aber Merry ist ganz allein«, bettelte ich. »Sie hat bestimmt Angst.«
»Sie schläft fast den ganzen Tag lang.«
»Bitte, Mimi Rubee, bring mich zu ihr.«
»Das reicht jetzt!« Meine Großmutter tunkte eine Papierserviette in ihr Wasserglas und tupfte die Krümel um meinen Teller vom Tisch. »Deiner Schwester geht es gut. Das habe ich dir schon tausendmal gesagt. Jetzt hör auf damit. Siehst du denn nicht, dass ich deinetwegen Migräne bekomme?« Sie rieb sich in kleinen kreisenden Bewegungen die Schläfen.
Ich ignorierte die Warnsignale – die erhobene Stimme meiner Großmutter, das zwanghafte Krümelaufwischen, das Schläfenreiben. Und dass sie mit zornigen Bewegungen den Tisch schrubbte. »Merry sollte nicht allein sein«, sagte ich.
» GENUG ! Er hat ihr das angetan!« Mimi Rubee krallte die Finger in ihr rot gefärbtes Haar, als wollte sie sich ganze Strähnen davon ausreißen. »Ein Ungeheuer, das ist er, euer Vater. Ein Monster!« Sie schlug so fest auf den Tisch, dass meine Scheibe Brot hochhüpfte und ihr Kaffee überschwappte.
Mimi Rubee hatte mich nicht zur Beerdigung meiner Mutter gehen lassen. Ich war bei Oma Zelda geblieben, Daddys Mutter. Wir hatten stundenlang Fernsehen geschaut, eine Sendung war mit der anderen verschwommen, und weder Oma Zelda noch ich hatten uns die Mühe gemacht umzuschalten. Wir starrten einfach auf das, was gerade lief, während Merry allein im Coney Island Hospital lag, mein Vater im Gefängnis verrottete, wie alle immer wieder sagten, und Mimi Rubee meine Mutter in der Erde begrub. Ich stellte mir vor, wie meine Großmutter bei der Beerdigung so laut schrie, dass sie Mama beinahe aufgeweckt hätte.
Mama hatte Mimi Rubee immer eine wahre Sarah Bernhardt genannt, das war anscheinend irgendeine Schauspielerin von früher. An manchen Nachmittagen trank Mama eine Tasse koffeinfreien Kaffee mit Cognac und erzählte von den Tobsuchtsanfällen, die Mimi Rubee bekommen hatte, als Mama und Daddy ein Paar geworden waren. Mama konnte Mimi Rubees aufgesetzt kultivierte Aussprache sehr gut nachahmen, die jedes Wort einzeln betonte: »Du bist zu jung, zu schön und zu dünn, Herrgott noch mal. Wirf dein Leben nicht weg. So schlank wie jetzt wirst du nie wieder sein.«
Mama hatte die Geschichte immer beendet, indem sie sich in das nicht vorhandene Fett am Oberschenkel kniff und mit einem freudlosen Lachen sagte: »Denk daran, Lulu, dass Mütter am Ende immer recht behalten. Niemand sonst sagt einem die Wahrheit.«
Nach ihrem Heulanfall musste Mimi Rubee wegen ihres Kopfwehs ein Nickerchen machen. Sie ging in ihr Zimmer, schloss die Augen und stieg ins Bett. Dann rief sie, ich solle ihr die besondere weiße Emailleschüssel mit dem angeschlagenen Rand bringen. Die Schüssel brauchte sie, falls sie sich übergeben musste. Danach sollte ich ihr einen kalten Waschlappen für ihre Stirn bringen, und ich passte extra auf, dass er nicht mehr tropfte.
Als ich mit allem fertig war und der metallene Ventilator, den ich an ihr Bett geschleift hatte, kühle Luft durchs Zimmer blies, seufzte sie und lächelte mich schwach an. Mit ein paar Tränen an den Wimpern erklärte Mimi Rubee mich zu ihrer tapferen kleinen Soldatin. »Du bist immer so brav. Deshalb hat deine Mutter dich geliebt.«
Mimi Rubees Migränetablette begann zu wirken, sie atmete schwer und schnarchte bald laut. Ich schlich mich hinaus und schloss die Tür hinter mir. Dann holte ich meine Schuhe unter dem Sofa hervor, ein hartes Möbelstück aus Teakholz, ganz ähnlich wie die übrige Wohnungseinrichtung. Nach Opas Tod hatte Mimi Rubee all die dunklen viktorianischen Möbel rausgeworfen, genau wie die schweren orientalischen Teppiche, die er so geliebt hatte. Sie hatte ihren Wunsch verkündet, mit der Zeit zu gehen, und moderne funktionale Möbel und dicke, weiche Teppiche mit eingewebten Sonnenuntergängen gekauft. Ich schlief auf der knochenharten Couch und wachte morgens
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