Hikikomori
Mutter hat nur die Ausziehcouch im Wohnzimmer. Wie es bei der Arbeit war, frage ich nicht. Das ist zwischen uns Tabu. Mutter hat immer wieder versucht, ihr kleinere Geldbeträge zuzustecken, sie mit einem Förderstipendium zu versorgen, um ihr Derartiges zu ersparen. Aber das wollte Kim nicht. Stattdessen sagt sie: »T ill, du tust mir leid.« Ich sage, das sei alles halb so schlimm. Aber sie schüttelt nur den Kopf, dass ihr kurzes rotbraunes Haar energisch hin- und herschwenkt und dann wieder auf ihrer Stirn zur Ruhe kommt. »Ich bin auf deiner Seite«, sagt sie und streicht sich die Strähnen aus dem Gesicht. »Gegen Wind und Wetter«, sagt sie, und ich weiß, es ist unser Lied. – »Lustig in die Welt hinein«, antworte ich. »Gegen Wind und Wetter!«, wiederholt sie euphorisch. – »Will kein Gott auf Erden sein«, sage ich. – »Sind wir selber Götter!« Wir lachen, und ich wünsche mir kurz, sie wäre jetzt bei mir und ich könnte sie in den Arm nehmen. Sie würde ihren Kopf auf meine Brust legen und mit ihren langen schmalen Fingern über meinen Bauch fahren, als folgte sie einer bestimmten Route, oder einem Muster, das sich wie eine unsichtbare Landkarte, die nur sie sehen kann, auf meinem Körper abzeichnete. Gerade aber bleiben uns lediglich Worte, und ich sage ihr, wie wichtig es für mich ist, sie an meiner Seite zu wissen. Mir ist vollkommen bewusst, wie sehr es sie freut, wenn ich solche Dinge sage, denn sie ist Einzelkämpferin wider Willen.
Sie müsse jetzt aber weitermachen, sagt sie. Womit sie weitermachen muss, weiß ich nicht. Ich sage: »Gut, dann mach weiter«, und ihr Gesicht strahlt dabei unheimlich schön. Ich drücke Befehl-Umschalt-3 und mache einen Screenshot von ihr, bevor sie den Stream unterbricht. Der Drucker rattert, während ich die fast kahle Wand betrachte. Nur die Zeichnung, die Kim gemacht hat, hängt dort. Sie zeigt einen Jungen, der an einer Betonwand lehnt, die Beine hat er angewinkelt und die Arme so darauf abgestützt, dass der Körper dahinter verschwindet. Erstaunlich sind seine Augen, die mich direkt anstieren: Das eine ist überdimensional geweitet und schwarz, das andere vollkommen weiß. Wenn ich nur lange genug ins Weiß schaue, kommt es mir vor, als schwebe ich wieder über meinem Zimmer. – Zwischen Daumen und Zeigefinger hält sich der Junge eine Zigarette vor den Mund, gleichzeitig scheint er etwas sagen zu wollen. Die Lungenflügel müssen voller Rauch sein, hätte Kim den Augenblick nur wenig später festgehalten, hätte er schon wieder aus den Nasenlöchern herausquellen müssen.
Das sei ich, hatte Kim gesagt, das Bild gleich darauf aber als Kritzelei abgetan. Sie habe Talent, hatte Mutter erwidert, als sie die Zeichnung auf meinem Schreibtisch liegen sah, ich solle ihr das doch bitte ausrichten. Mutter ließ die Zeichnung rahmen, sie hielt den Nagel, ich schlug mit dem Hammer. Das müsse doch gefördert werden, hatte sie betont und wieder darauf gepocht, Kim in ihr Förderprogramm aufzunehmen. Das sei ihr peinlich, hatte ich geantwortet, sie wolle keine Almosen.
Ich nehme den ausgedruckten Screenshot und pinne Kim neben den Jungen. In dicken Lettern schreibe ich Gegen Wind und Wetter darunter.
In der Multiplayer-Lobby von Medal of Honor warten Hunderte Spieler dicht gedrängt. Sie tummeln sich hier im Vorzimmer, um das V2-Rakete-Szenario zu betreten. Seit die freieste Waldorfschule der Welt mich fallen ließ, habe ich diese alte Welt reanimiert. Hier hat sich nichts verändert, es ist eine Welt, die keinen Staub ansetzt. Diverse Server werden angezeigt, darunter mein alter HaVoK -Lieblings-Server. Ich klicke mich in 43312212.54. Ein vertrauter Name taucht sofort auf: Das Tapfere Sniperlein . Wenn das Matze wüsste! – Hey Apex , schreibt er, schön dich wiederzusehen .
Vater kam früher als sonst, schon mit der Dämmerung, nach Hause. Man kann ihm viel vorwerfen, aber er weiß meistens, wann ich in Ruhe gelassen werden möchte. Dann versucht er es bei Anna-Marie, strolcht in ihrem Zimmer umher, erkundigt sich nach dem Entwicklungsstand ihrer Freundinnen. Aber mehr als schematische Ja-Nein-Antworten bekommt er nicht aus ihr heraus. Vielleicht sollte er es auch mal im Netz versuchen. Zu seiner Freude ist Jan zeitgleich aufgetaucht, beide haben einen kräftigen Händedruck, zum Abschied nimmt Vater ihn stets in den Arm. Während ich durch den Entlüftungsschacht der Bunkeranlage robbe, unterhalten sie sich direkt vor meiner Tür, als wäre Jan
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