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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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Er hat glatte, reine Haut in HD -Qualität. »Rauchen tust du doch noch, oder?«, fragt Jan. Als Antwort durchwühlt Till die Schublade seines Schreibtischs und findet das Feuerzeug neben Stiften und Walnussresten. Gleichzeitig klicken die Feuerzeuge. »Was machst du denn sonst so in letzter Zeit?«
    »Ich denke.« Till schnaubt den Rauch durch die Nase und blinzelt ab und an über die Kamera hinweg, als gäbe es hinter dem Erker, auf der anderen Straßenseite, noch etwas zu sehen.
    »Aha, und was?«
    »Dass im Grunde alles in uns hineinfällt.«
    »In was hineinfällt?«
    »In uns, von außen. Im Grunde haben wir in unserem Kopf eine eigene Welt, die alles aufsaugt: hier die Tasse mit dem getrockneten Milchschaum, der Riss in der Keramik, da das Terrarium, drüben die Balkone, Blumenvasen, die vereiste Socke. – Dein Bildschirm, ich darauf im geöffneten Fenster, verstehst du?« Till streckt sich und ascht ins Terrarium. »Das ist«, setzt Till an, »als hätten wir eine Kameracrew im Kopf, die alles aufnimmt, den privaten Film bastelt. Und jeder dreht in jeder Sekunde seinen eigenen Film. Das Witzige dabei ist, dass im eigenen Film nur die anderen vorkommen!«
    »Woher hast du denn das schon wieder?«
    »Soll ich es dir vorlesen?«
    »Bei der Party, ja?, da sitzen wir dann philosophierend in der Ecke, während die anderen besoffen über uns drübertorkeln und gar nichts davon mitbekommen. Du kommst doch, oder?« Jan zieht fest an der Zigarette, so dass sie merklich kürzer wird, und fährt sich durch sein verzwirbeltes Haar.
    »Ich stecke in Medal of Honor .«
    »Wie?!« Jan schmunzelt, drückt die Zigarette aus und steckt sofort eine neue an. »Muss ich mir jetzt Sorgen machen?«
    »Ich hab wieder Zeit.«
    »Sind es immer noch dieselben Leute?«
    »Einen habe ich wiedererkannt: Das Tapfere Sniperlein .« Auch Till zündet sich eine zweite Zigarette an. Wieder schaut er über die Kamera hinweg.
    »Der muss dann aber wirklich kein Leben haben, ich meine, über Jahre hinweg immer ein und dasselbe Spiel.«
    »Er ist irre gut«, sagt Till. »Und er beschäftigt sich mit jedem, hält Gruppen zusammen – die bauen irgendwie auf ihn.« Abermals huscht Tills Blick über die Kamera hinweg.
    »Was ist los?«, fragt Jan. »Wirst du beobachtet?«
    »Ich zeig’s dir«, sagt er schmunzelnd und dreht die Webcam um.
    »Da ist nichts.«
    »Schau genau hin, gegenüber, einen Stock höher. Siehst du’s?«
    »Der Typ?«
    »Der steht da neuerdings immer, da hinter seinem Blumenkasten.«
    »Was hat er an? Ist das ein pinkfarbenes Hemd?«
    »Und schau mal, was er macht.«
    »Hm, er raucht.«
    »Ja, auch noch Marlboro Gold. – Und jetzt warte, was passiert, wenn ich die Zigarette ausdrücke.« Till drückt die Zigarette im Aquarium aus, im selben Moment drückt der Mann die Zigarette in den Blumenkasten. »Wow«, sagt Jan. »Wink ihm mal.«
    Till zögert, winkt dann. Der Mann von gegenüber dreht sich um, als würde jemand hinter ihm stehen, dem der Gruß gilt. Als er sich den beiden wieder zuwendet, schüttelt er bloß den Kopf und zieht den Vorhang vors Fenster.
    »Komischer Typ«, sagt Jan. »Wer ist das?«
    »Ich hab ihn Karl getauft.«
    »Beamter?«
    »Bestimmt!« Beide lachen. Jetzt muss jemand in Jans Zimmer getreten sein, der dessen Aufmerksamkeit auf sich zieht. »Warte kurz«, sagt Jan und verschwindet aus dem Bild. Die Webcam zeigt die geriffelte Wand und ein Foto von dem Freund mit einer Schar Pfadfinderinnen im Arm. Till hat das Foto damals geschossen, auf dem Weg nach Italien. Jan spricht gerade mit Frau Reichert, die reichlich wenig von Alpenüberquerungen auf gänzlich überforderten Motorrollern gehalten hatte und auch nichts von einer Horde Pfadfinderinnen als Zeitvertreib in den Schulferien. Trotzdem konnte seitdem nichts Jan davon abhalten, jede freie Minute in der Weltgeschichte herumzutingeln und dabei in der nördlichen Hemisphäre zu verwahrlosen. Auf dem Foto lässt sich ein Bartansatz erahnen – der steht ihm, wie Till findet.
    »Bei uns gibt’s Abendessen«, sagt Jan. »Sehen wir uns bei der Party?«
    »Vielleicht.«
    »Kim wollte es wissen.«
    »Kim will so etwas nicht wissen.«
    »Zumindest will sie bei dir vorbeikommen.«
    »Niemals. Sie hat Angst vor meinen Eltern.«
    »Eine Ausnahme wird sie schon machen. – Dich aufscheuchen, hat sie gesagt.«
    Nachdem Till sich ganz sicher ist, dass Anna-Marie und Karola im Wohnzimmer verschwunden sind, drückt er die Tür zum Gang auf. Vor der Flügeltür bleibt

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