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Hinter der Milchstraße - Roman

Hinter der Milchstraße - Roman

Titel: Hinter der Milchstraße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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dem Haus mit den Rhododendronbüschen meinte ich, die Stimme meines Bruders über die Bäume hinweg zu hören. Doch als ich stehen blieb, hörte ich nur den Lärm von brummenden Rasenmähern.
    Ein Stück weiter musste ich die Auffahrt mit dem weißen Kies hinaufgehen. Ich versuchte, um die Ecke zu spähen und vielleicht meinen Bruder zu entdecken. Ganz kurz überlegte ich auch zu rufen: »Bossie, komm nach Hause.«
    Statt dem Weg zu folgen, tauchte ich ab ins Gebüsch. Gebückt suchte ich mir einen Weg unter den Rhododendronsträuchern hindurch. Genau an der Stelle, an der Bossie und Geesje und ich am vergangenen Samstag gelegen hatten, warf ich mich auf den Bauch.
    Ich hatte vergessen, wie weich man hier lag.
    Um mich herum sah ich Lichtflecken auf der Erde. Und Vögel zwitscherten, die wir in der Pomonastraße nicht hörten. Die Blätter der Rhododendren bewegten sich nicht. Doch die Bäume darüber rauschten.
    Genau wie am Samstag standen alle Fenster und Türen des Hauses offen. Der Tisch im Innenhof war leer, bis auf zwei Gläser und eine gelbe Limonadenflasche.
    Die Stühle auf der Terrasse standen wild durcheinander.
    Ich horchte, ob Bossie und Calista irgendwo im Haus waren.
    Ganz in der Nähe hörte ich das Rascheln von Papier.
    Im Schatten lag eine Frau in einem Liegestuhl. Sie hielt eine Zeitschrift hoch. Sie las nicht, sie blätterte sie nur durch und warf sie nach einer Weile gelangweilt zur Seite.
    Mit den Füßen tastete sie nach ihren Slipper. Die Sonnenbrille schob sie sich oben auf den Kopf. Staub von ihrem Rock wirbelte hinter ihr her, als sie ins Haus lief. Sie ging an allen Fenstern und Türen vorbei, als würde sie direkt durch die Wand gehen.
    Ich hörte das Ploppen eines Korkens, der aus einer Flasche gezogen wurde.
    Es dauerte lange, bis die Frau wieder im vollen Licht auftauchte. Sie hatte ein Glas in der Hand. Sie ging zum Terrassenrand und setzte die Sonnenbrille wieder auf. Sie nahm einen Schluck Weißwein. Gedankenlos. Sie betrachtete den Garten, wie sie vorhin die Zeitschrift betrachtet hatte. Es sah aus, als würde sie im Stehen schlafen.
    Plötzlich füllte sie ihre Lungen mit Luft.
    »Calista?«, rief sie.
    Manche Vögel erschraken sogar vom Echo.
    Die Frau und ich spitzten die Ohren, aber es kam keine Antwort.

SCHEISSZEUG
    Ich lief schnell weiter. Während ich den Unterholzweg entlanglief, schaute ich mich ständig um, ob Bossie und Calista nicht aus der anderen Richtung kamen. Nach einer Weile war es, als würde ich gleichzeitig in zwei Richtungen laufen.
    Ich war froh, als ich die Häuser erreichte, die siamesische Zwillinge waren. Hier gab es mehr Licht, mehr Luft.
    Den Lärm der Rasenmäher ließ ich hinter mir. Vor den zehn identischen Reihenhäusern gab es identische taschentuchgroße Rasenflächen, die man mit einer Nagelschere kurz halten konnte. Aus den offen stehenden Fenstern eines Hauses hörte man das Geplapper eines Radios. Menschen jubelten auf einer Tribüne. In der Ferne läuteten Glocken.
    Ich zählte die Häuser wie in einem Kinderlied. Meine Füße stampften mit den Zahlen über den Bürgersteig. Das machte mich richtig froh.
    Im Schatten des Pfads neben der Kirche war es kühl. Ich legte die Hände auf den Rücken und machte mich breit. Mein Hemd klebte vor Schweiß. Meine Lungen brannten.
    Es dauerte ein paar Sekunden, bevor ich merkte, dass ich die Turmuhr betrachtete. Als ich sah, wie spät es war, hätte ich mir selbst eine Ohrfeige geben können.
    Ich war so blöd zu glauben, dass ich noch etwas von Jeckyll sehen würde. Ich dachte, dass ich vielleicht noch einen Absatz von Nancys Stiefeln um die Ecke verschwinden sehen würde. Ich war überzeugt davon, dass ich mit einem Satz die Sandstraße erreichen würde.
    Nichts dergleichen.
    Die Biegung um die Anlage schien kein Ende zu nehmen. Noch bevor ich die Ecke der Milchstraße und der Sandstraße erreicht hatte, fing ich an, mit den Füßen zu stampfen.
    Kein Jeckyll, keine Nancy.
    Ich ließ die Arme sinken und sagte laut: »Scheißzeug.«
    »Hoho«, sagte Bossie.
    Ich bekam einen Mordsschreck.
    Mein Bruder lehnte, die Hände in den Taschen, an der Mauer in der Sandstraße und machte einen Schritt vorwärts, ins Sonnenlicht.
    »Scheißzeug?«
    Ich verdrehte die Augen und tippte zornig auf mein Handgelenk, als hätte ich da eine Uhr. Hatte er die Glocken nicht gehört?
    Er machte mein Augenrollen nach.
    »Natürlich habe ich sie gehört«, sagte er. »Aber du siehst ja: Ich bin nicht Jeckyll.« Er nickte mit

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