Hirschgulasch
er.
»Was?«
»Wie du heißt, will ich wissen!«, schreit er.
»Luba.«
Sie startet und beschleunigt. Auf einer schnurgeraden Straße rasen
sie durch den Nachmittag. Wiktor wird Kopfschmerzen haben am Abend. Der
Fahrtwind reißt an seinem bloßen Kopf. Der Motorlärm erinnert ihn an seinen
Einsatz am Kraftwerk. Die Arbeiter auf dem Dach, die sogenannten
»Liquidatoren«, wurden nach wenigen Minuten schon ausgetauscht. Sie merkten
nicht einmal, dass ihnen schlecht war, wenn sie vom Dach gingen, und konnten
doch nicht mehr aufhören zu kotzen.
Er möchte wissen, was sie mit der Alten zu reden hatte, was in dem
Umschlag war, den sie ihr zugesteckt hat. Das war es wohl, was er nicht
mitbekommen sollte. Nicht die Medikamente. Sie waren doch alle krank. Wenn es
nicht die Schilddrüse war, dann war es Leukämie. Früher oder später waren sie
alle dran, die dabei gewesen waren, die sich in der Dreißig-Kilometer-Zone
aufgehalten hatten oder immer noch aufhielten, wie das Mütterchen.
Sie hat nicht gesagt, dass sie nicht mit ihm ins Café Puschkin geht,
und nichts davon, dass sie ihn loswerden will. Das ist doch schon mal ein
Anfang.
Der Posten kommt nicht einmal aus dem Häuschen, die Schranke ist
geöffnet, und Luba fährt durch, hebt die linke Hand zum Gruß, wie damals, bei
der Parade am 1. Mai 1986, als die Bevölkerung immer noch keine Ahnung davon
hatte, was wirklich passiert war.
Luba, denkt Wiktor. Sie kennen sie hier alle. Er wundert sich, dass
sie sich erst heute begegnet sind.
Kiew, 1. Mai 2010
Die Zarenzeit, den Ersten Weltkrieg, die Oktoberrevolution, die zum
ersten Mal für die leibeigenen Bauern Freiheit und Bildung brachte, den
Stalin-Terror, in dem sie zu Millionen geopfert wurden, den Großen
Vaterländischen Krieg, Chruschtschow, Breschnew, Andropow, Tschernenko,
Gorbatschow, ja sogar das Ende der Sowjetunion und die orangene Revolution hat
das Café Puschkin unversehrt und fast unverändert überstanden. Die
Kristalllüster, die holzvertäfelten Wände mit den Laub-Intarsien, alles ist
intakt, genau wie vor hundert Jahren. Eine Attraktion Kiews, ebenso wie der
fünf Meter lange Hausen, der manchmal im Dnjepr schwimmen soll.
Wiktor hat noch nie einen von diesen großen Fischen gesehen, aber
das Café Puschkin, das kennt er gut, aus Nächten, in denen er gegen seinen
Freund Miro Schach spielte. Miro, Miro, alles machten sie zusammen: die
Offiziersausbildung, die ersten Frauengeschichten, die Pilotenausbildung und
die Liquidation, und immer spielten sie Schach, wenn Zeit dafür war, am
liebsten im Café Puschkin. Miro ist tot. An der Strahlenkrankheit gestorben,
aber offiziell ist er einfach gestorben, wie immer schon Menschen gestorben
sind.
Luba parkt ihre Maschine direkt vor dem Café. Drinnen zieht sie
ihren Motorradanzug aus, und Wiktor sieht, wie attraktiv diese junge Frau ist.
Doch er will nicht sentimental werden, nur ihr Geheimnis ergründen.
»Spielst du Schach?«, fragt er, als sie sich an eines der Tischchen
setzen.
»Ja, aber nicht jetzt. Außerdem hättest du keine Chance gegen mich.«
Lubas Erinnerungen an das Café sind drei Jahre alt, genauer gesagt
werden ihre ganz persönlichen Erinnerungen an das Café Puschkin diesen Herbst
drei Jahre alt.
Sie lernte ihn in der Metrostation an der Dnjepr-Brücke kennen. Ilya
sprang aus der noch nicht ganz zum Stehen gekommenen fahrenden Metro auf Lubas
Füße.
Sie schrie: »Idiot!«, weil ihre Brille zerbrach, als sie auf den
Bahnsteig fiel.
Ilya war erschrocken, aber er benahm sich anders als jeder Mann, den
sie davor getroffen hatte. Er kniete sich nieder und betastete ihre Zehen. Er
sagte nichts, berührte sie mit sanften Händen, bei denen sie spürte, dass sie
erfühlen, was andere nur mit einem Röntgengerät erkennen können.
»Gott sei Dank, nichts Schlimmes«, sagte er. »Es tut mir leid,
normalerweise bin ich kein solcher Tollpatsch.« Als er wieder aufstand, hatte
er die zerbrochene Brille in der Hand und sagte nicht: »Die hätte sowieso nicht
mehr lange gehalten«, was zweifellos nicht aus der Luft gegriffen gewesen wäre.
Er sagte: »Komm, oben ist ein Optiker.« Er fragte Luba nicht, wohin sie gerade
wollte, ob sie einen Termin hatte, er nahm ihre Hand, und sie trabte hinter ihm
her. So bekam sie eine schöne neue Brille, einige blaue Flecken an den Zehen,
und das Wichtigste: So lernte sie Ilya kennen.
Natürlich war Ilya verheiratet, aber er war so zärtlich, so liebevoll
zu ihr. Sie war nicht eifersüchtig, wenn er
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