Historical Saison Band 18 (German Edition)
ich die Witwe aufsuchen, um sie davon zu überzeugen, dass ich schreckliche Migräne habe und sie heute Abend nicht begleiten kann.“
Sie erhob sich und blickte wehmütig auf ihr Abendkleid, das sie mit besonderer Sorgfalt ausgewählt hatte. „Ein bisschen schade ist es schon“, gestand sie. „Es war einer der Bälle, die ich wirklich gern besucht hätte, aus gewissen … nun … sentimentalen Gründen.“ Seufzend konzentrierte sie sich wieder ganz auf die Gegenwart. „Aber es geht nicht anders. Treffen Sie mich in einer Stunde am Seiteneingang. Bis dahin werden die Countess und Lady Sophia das Haus verlassen haben.“
Beinah zwei Stunden später stieg Georgiana in einem besonders verrufenen Teil der Stadt aus einer gemieteten Droschke, die vor einer schäbigen Taverne hielt. So weit war sie nie zuvor in den Osten Londons gelangt. Bei der einzigen Gelegenheit, bei der sie die eleganteren Stadtviertel verlassen hatte, war Lord Fincham bei ihr gewesen und hatte ihr ein Gefühl von Sicherheit gegeben. Jetzt fühlte sie sich alles andere als behaglich, doch ließ sie sich davon nicht beirren und betrat die heruntergekommene Schänke.
Auch wenn dies schwer vorstellbar war, machte das Innere einen noch unwirtlicheren Eindruck als das Äußere. Die üblen Ausdünstungen ungewaschener Körper, die sich mit anderen widerwärtigen Gerüchen mischten, brachten sie beinah zum Würgen, als sie sich durch festgetretenen, faulenden Unrat auf dem Boden den Weg zum Schanktisch bahnte.
Eine junge Frau mit struppigem Haar, das sie mehr schlecht als recht unter eine verschmutzte Morgenhaube geschoben hatte, kam zu ihr, um sie zu bedienen. „Was kann ich dir bringen, junger Mann?“
Kann dies die Person sein, die mir helfen soll? überlegte Georgiana. Fraglos passte ihr Äußeres auf Digbys Beschreibung – vollbusig und ungepflegt. Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden!
„Sind Sie Nell?“
Die Frau sah sie argwöhnisch aus fahlgrauen Augen an. „Wer will das wissen?“
„Jem Fisher sagte, Sie wären bereit, mich in einem bestimmten Zimmer zu verstecken.“
„Behauptet er das?“ Sie wirkte sichtlich unbeeindruckt. „Du bist auf jeden Fall nich’ der Kerl, den er mal mit hierher gebracht hat. So viel steht fest. Du bist höchstens halb so alt, wenn überhaupt.“
„Ach ja, das war Digby. Er ist … mein Onkel“, fügte Georgiana geistesgegenwärtig hinzu. Die Frau nahm die Antwort zur Kenntnis, blieb dennoch misstrauisch. Und wer konnte ihr das auch verdenken? Wenn der Wirt entdeckte, dass sie Leute im Hinterzimmer versteckte, konnte sie leicht ihre Arbeit verlieren. „Er hatte vor wenigen Stunden einen Unfall und hat sich den Knöchel verletzt“, fuhr Georgiana mit ihren Erklärungen fort. „Deshalb hat er mich geschickt.“
„Nun, ich find’s seltsam, ’nen Jungen zu beauftragen. Naja …“, sie zuckte mit den Achseln, „… wenigstens kannste dich leichter im Schrank verstecken als dein Onkel. Aber erst mal bestellste besser ’nen Bier, sonst merkt auch noch der letzte Trottel, dass du nicht hierher gehörst.“
„Ich nehme an, der Franzose und Tate sind noch nicht hier?“, erkundigte sich Georgiana, nachdem Nell ihr einen Krug mit einem ungenießbaren schaumigen Gebräu in die Hände gedrückt hatte.
Die Frage schien die Frau zu beruhigen. „Offenbar weißt du, worum es geht, auch wenn du aussiehst, als ob du noch grün hinter’n Ohren wärst.“ Ihr Grinsen entblößte eine ganze Reihe verfaulter Zähne. „Nee, die sind noch nich’ hier, trotzdem solltest du keine Zeit verlier’n. Stell dich da hinten an die Tür, dann lass ich dich auf den Gang, sobald der Wirt grad’ nich’ hinguckt.“
Alsbald setzte Nell den Plan in die Tat um und führte Georgiana in ein Zimmer, das sich am hinteren Ende eines schlecht beleuchteten Gangs befand. „Ich sollte hier heut’ am Tag fegen, deshalb kannste sicher sein, dass sie kommen. Ich kann dir aber nich’ sagen, wie lang du warten musst. Ich habe ein paar Bretter weggeräumt, sodass du dich hier drinnen verstecken kannst.“ Mit diesen Worten öffnete sie die Türen eines großen Schranks, in dem verschiedene Gegenstände wahllos in der oberen Ablage verstaut worden waren. Die untere Schrankhälfte war leer, sodass einem zierlichen Menschen genügend Platz zum Sitzen, kaum jedoch für weitere Bewegung blieb.
„Biste sicher, dass du es da drinnen aushältst?“ Nell musterte Georgiana von Kopf bis Fuß. „Du machst keinen sehr robusten
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