Hitlers Berlin
Hoffnung und Verzweiflung auf die Straße hinausposaunt. Berlin war: die unverschämt Reichen in den Edelrestaurants, die Prostituierten in militärischen Schnürstiefeln an den Ecken, die todernsten, geduckt aussehenden Kommunisten in Marschordnung und die gewalttätigen Jugendlichen, die plötzlich, wie aus dem Nichts heraus, auf dem Witten bergplatz auftauchten und ›Deutschland erwache!‹ brüllten.« Und: »Im Berliner Sud brodelten Arbeitslosigkeit, Unterernährung, Börsenpanik, Hass auf den Versailler Vertrag und andere hochwirksame Zutaten.« Das Berlin vor Hitler war eine Stadt im Aufbruch, dynamisch und der Zukunft zugewandt, aber zugleich eine finanziell, sozial und ökonomisch schwer belastete Gemeinde. In der Hauptstadt bündelten sich alle wesentlichen Probleme des Landes; hinzu kamen andere, die es so nur hier gab, zum Beispiel die Folgen des stetigen Bevölkerungswachstums. Nichts wies Anfang der dreißiger Jahre darauf hin, dass die deutsche Hauptstadt binnen eines weiteren Jahrfünfts seinen Charakter und seine internationale Bedeutung ein weiteres Mal total verändern würde. »Berlin ist eine merkwürdige Stadt; fast könnte man von einem punktuellen Genie Berlins sprechen«, schreibt Wolf Jobst Siedler, »immer wieder scheint Berlin auf die Höhe seiner Möglichkeiten zu kommen, dann bricht jedes Mal die Entwicklung ab.« Das war in und kurz nach den Napoleonischen Kriegen der Fall, als die preußischen Reformer und Größen wie Schleiermacher und die Humboldts die damalige preußische Residenz zum ersten Mal auf das Niveau der Zentren europäischen Geistes führten. Das war wieder so in der Wirtschafts- und Wissenschaftsmetropole vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges, als nirgends mehr Nobelpreisträger lehrten als in Berlin. Und erneut anderthalb Jahrzehnte später, als ein weiterer Anlauf der deutschen Hauptstadt, zur Weltmetropole aufzusteigen, in einem Sumpf aus Krise, Ressentiment und Chauvinismus steckenblieb. »Golden« waren die Zwanziger nicht. Aber sie sind der Maßstab, an dem Berlins Gegenwart sich immer wieder messen lassen muss – über den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus hinweg. 4
1916 – 1924
1 ZIEL
Beginn einer gestörten Beziehung
Zufällig und flüchtig: So kann man Hitlers ersten Aufenthalt in Berlin beschreiben. Der Freiwillige des Ersten Weltkrieges war als Meldegänger am 5. Oktober 1916 während der Schlacht an der Somme in Nordostfrankreich durch einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verletzt und zur Genesung am 9. Oktober ins Vereinslazarett des Roten Kreuzes in Beelitz (Mark Brandenburg) geschickt worden. Als der Rekonvaleszent wieder einigermaßen laufen konnte, erhielt er die Erlaubnis, Anfang November in die kaum 40 Kilometer entfernte Reichshauptstadt zu fahren. Ein einziges Dokument belegt diesen Ausflug: Eine Postkarte, abgestempelt in Beelitz am 4.November 1916 und adressiert an die Ordonanz des 16. Bayerischen Reserve-Infanterieregiments, Franz Mayer. Die Ansichtskarte zeigt die wie einen römischen Tempel gestaltete Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel, deren Sammlung damals vor allem durch patriotische Bilder von Peter Cornelius, viele deutsche Genregemälde des 19. Jahrhunderts sowie einige wenige Werke von Caspar David Friedrich, Eduard Gaertner und Karl Friedrich Schinkel dominiert war. Ob der 27-jährige Hitler, der sich selbst »Kunstmaler« nannte, tatsächlich Anfang November 1916 die Nationalgalerie oder ein anderes Berliner Museum aufgesucht hat, muss offen bleiben, denn der einzige zeitgenössische Beleg für den Besuch enthält dazu kein Wort. Vielmehr beglückwünschte er seinen Kameraden knapp: »Lieber Mayer, gratuliere Dir herzlich zum Eisernen Kreuz. Es freut mich, daß endlich auch an Euch wieder gedacht wurde. Herzliche Grüße A. Hitler.« 1 In seinem pseudo-autobiografischen Bekenntnisbuch Mein Kampf erinnerte sich der ehemalige Soldat 1924: »Als ich wieder richtig gehen konnte, erhielt ich Erlaubnis, nach Berlin fahren zu dürfen. Die Not war ersichtlich überall sehr herbe. Die Millionenstadt litt Hunger. Die Unzufriedenheit war groß.« Bereits bei diesem ersten Berlin-Besuch habe er gespürt, was in den frühen zwanziger Jahren in zahlreichen rechten Propagandaschriften der »Dolchstoß der Heimat« in den »Rücken des tapfer kämpfenden Heeres« genannt wurde. Hitler schrieb: »In verschiedenen von Soldaten besuchten Heimen war der Ton ähnlich dem des Lazaretts [in Beelitz, wo laut Hitler das
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