Hitlers Berlin
kein dem richtungweisenden, sechsbändigen Projekt »Bayern in der NS-Zeit« des Instituts für Zeitgeschichte München auch nur entfernt vergleichbares Vorhaben. Ein Grund dafür war die deutsche Teilung, die die jüngste Vergangenheit Berlins zu einem geschichtspolitisch umkämpften Feld machte. Doch auch nach 1990 kam auf diesem Gebiet wenig voran. Der Historiker Wolfgang Wippermann hat zwar in den neunziger Jahren ein Vorhaben »Berlin im Nationalsozialismus« initiiert, musste aber mangels Unterstützung durch die Politik bald aufgeben. So wissen wir heute immer noch wenig über den Aufstieg der Hitler-Bewegung in der Reichshauptstadt und über das Verhältnis ihres »Führers« zu Berlin.
An den Quellen kann es nicht liegen, jedenfalls nicht an einem Mangel zeitgenössischer Informationen. Mehr als ein Dutzend Berliner Zeitungen aus den zwanziger und frühen dreißiger Jahren sind als Mikrofilme verfügbar, vom linken Rand des politischen Spektrums bis ganz rechts außen. Manche ausländischen Blätter aus dieser Zeit sind sogar in komfortabler Volltextsuche per Datenbank zu recherchieren, so dass selbst die Wahrnehmung der NSDAP in New York und Washington erschlossen werden kann. Inzwischen steht auch die Edition der Aufzeichnungen von Joseph Goebbels kurz vor ihrer Vollendung. Immerhin achtzehneinhalb Jahre, von November1926 bis Mai1945, amtierte er als Gauleiter in der Hauptstadt und notierte oder diktierte fast täglich mehrere Seiten, eine tagebuchartige Materialsammlung zu Propagandazwecken. Die Bedeutung dieser Quelle lässt sich kaum überschätzen, sofern man sie im Bewusstsein um ihre Entstehungsumstände nutzt und nicht als subjektiv ehrliche Reflektion missversteht.Außer Goebbels’Notizen gibt es zahlreiche Zeitzeugenberichte und authentische Tagebücher, die um Berlin vor dem und im Zweiten Weltkrieg kreisen. Nach der Wiedervereinigung der beiden Stadthälften werden nun auch die hinterlassenen Akten systematisch neu geordnet; eine Mammutaufgabe für das Landesarchiv Berlin, die naturgemäß erst in einigen Jahren abgeschlossen sein wird. Mit »Hitlers Berlin« kann und will ich künftigen wissenschaftlichen Untersuchungen über die Geschichte der Reichshauptstadt vor dem und während des Nationalsozialismus’ keine Konkurrenz machen. Das Buch ist auch keine weitere Hitler-Biografie; deren gibt es mit rund 70 verschiedenen Lebensbeschreibungen bereits mehr als genug, kurze Porträts, fremdsprachige und apologetische Werke nicht einmal mitgezählt. Das vorliegende Buch konkurriert nicht nur nicht mit den großen Hitler-Biografien; es stützt sich vielmehr auf die besten von ihnen, insbesondere auf Ian Kershaws brillante zweibändige Kombination von Lebensbeschreibung des Diktators und Sozialgeschichte Deutschlands. »Hitlers Berlin« ist auch keine umfassende Geschichte einer Großstadt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert wie David Clay Larges lesenswertes Buch »Hitlers München« und kein Porträt des Geistes einer Stadt wie Brigitte Hamanns faszinierendes Werk »Hitlers Wien«.
Mein Buch will vielmehr das stets ambivalente Verhältnis des deutschen Diktators zu seiner Hauptstadt beschreiben. In Deutschland und in Berlin zumal herrscht der Eindruck vor, Hitler habe mit der Metropole nie etwas im Sinn gehabt. Im Ausland dagegen wurden und werden Berlin und Hitler meist als Einheit gesehen. Diesen Befund illustriert die Tatsache, dass neun von zehn Touristengruppen, die den Ort des ehemaligen Führerbunkers im Hof des Hauses Wilhelmstraße 92 in Mitte aufsuchen, aus dem Ausland kommen – zu vier Fünfteln sind es Amerikaner, Briten und andere englischsprachige Besucher. Im Sommer 2003, ein gutes Jahr vor dem Film »Der Untergang«, habe ich in meinem Buch »Mythos Führerbunker« die Archivquellen zu diesem merkwürdigen und doch für das Dritte Reich so typischen Bauwerk ausgewertet. Mit »Hitlers Berlin« folgt nun der Versuch, ein Gesamtbild der Beziehung zwischen Reichshauptstadt und Diktator zu zeichnen. Sie war weitaus enger und intensiver, als allgemein angenommen. Manche lieb gewonnene Legende bricht in sich zusammen, wenn man sie mit den in zeitgenössischen Quellen überlieferten Fakten konfrontiert – zum Beispiel die trostreiche Vorstellung vom »anti-nationalsozialistischen«, weil »demokratischen« Berlin oder die These von der »Hauptstadt des Widerstandes«. Neue »einfache« Deutungen biete ich nicht an – je genauer man hinschaut, desto komplexer wird das Bild.
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