Hoellenfeuer
aber war er offen und redselig gewesen. Vielleicht würde sie dort Antworten auf ihre Fragen erhalten. Sie musste ihm noch einmal im Traum begegnen. Und das bedeutete, dass sie an Tetradyxol herankommen musste. Ohne dieses Mittel würde sie nicht von ihm träumen können. Also musste sie das Tetradyxol stehlen.
Es war bereits gegen 23.00 Uhr, als Eleanor durch die Gänge des Sanatoriums schlich. Um diese Zeit waren die Flure des Hauptgebäudes menschenleer. Die Patienten befanden sich in ihren Zimmern – einige davon waren verschlossen – und die wenigen Angestellten, die heute Nachtschicht hatten, befanden sich in den Aufenthalts- und Schlafräumen der Pfleger und Schwestern. Solange nicht irgendein Notfall eintrat, war es unwahrscheinlich, jemandem zu dieser Zeit zu begegnen.
Hinter der Tür des Schwesternzimmers des ersten Stockwerks waren die Geräusche eines Fernsehers zu hören. Offenbar lief dort ein Fußballspiel. Von Zeit zu Zeit war der Jubel von Zuschauern zu hören, während eine blecherne Kommentatorenstimme unverständliches Zeug vor sich hinbrabbelte. Der Lärmpegel im Inneren des Zimmers war zweifellos groß genug, dass niemand hinter der Tür Eleanor würde hören können.
Vorsichtig schlich Eleanor sich an der Tür vorbei. Wenige Meter weiter bog sie um die Ecke und stand kurz darauf vor der Tür zum Büro von Dr. Marcus. Noch ein letztes Mal sah Eleanor sich verstohlen um, dann drückte sie die Türklinke herunter und schob sich gegen die Tür. Sie hatte Glück. Die Tür führte ins Vorzimmer des Büros. Ursprünglich hatte hier einmal eine Sekretärin gesessen, doch das musste schon einige Jahre her sein. Mittlerweile war Dr. Marcus' Vorzimmer bis auf einen Schreibtisch, einen Bürosessel und einen metallenen Aktenschrank leer. Daher war diese Tür auch nie verschlossen.
Eleanor wusste genau, wo sie zu suchen hatte. Entschlossen schlich sie auf den Aktenschrank zu und tastete auf Zehenspitzen dessen Oberseite ab. Ein metallenes Klimpern verriet ihr, dass sie fündig geworden war. Erst vor wenigen Tagen hatte sie bemerkt, dass Dr. Marcus dort die Schlüssel zu seinem Büro versteckte. Sie war wie üblich von Schwester Emily zu ihrer Therapiesitzung gebracht worden, doch als sie in Dr. Marcus Vorzimmer standen und Schwester Emily an seine Tür klopfte, stellten sie fest, dass Dr. Marcus sich verspätet hatte. So hatten die beiden einige Minuten gewartet, bis Dr. Marcus atemlos ins Vorzimmer gestolpert kam. Wie üblich hatte er zunächst in den Taschen seines Mantels nach dem Büroschlüssel gesucht, dann jedoch entnervt nach dem Ersatzschlüssel auf dem Aktenschrank gegriffen. Jenem Schlüssel, den Eleanor nun in der Hand hielt.
Zweifel überfielen sie. Konnte es richtig sein, in Dr. Marcus' Büro einzudringen und sich das Medikament zu beschaffen? Ein Medikament, das ziemlich sicher gefährlich war. So gefährlich, dass Dr. Marcus es absetzen wollte. Was sagte es über Eleanor aus, dass sie des nachts in ein Büro eindrang, um Medikamente zu stehlen?
Mit zitternden Fingern steckte sie den Schlüssel ins Schloss. Sie wusste, dass sie keine ruhige Minute mehr in ihrem Leben haben würde, wenn sie dieser Sache nicht auf den Grund ging. Sie mochte psychisch krank sein, sie mochte ein Medikamentenjunkie sein. Aber in diesem Augenblick sah sie so klar wie nie zuvor in ihrem Leben, dass ihr Geist keine Ruhe finden würde, wenn sie Nummer Sieben nicht wiedersah und mit ihm sprechen könnte.
Mit einem leisen Klicken schnappte das Türschloss auf. Dann öffnete Eleanor die Tür und schlüpfte hinein. Mit wenigen Schritten war sie hinter Dr. Marcus' Schreibtisch. Die Schubladen des Schreibtisches waren zum Glück nicht verschlossen und so genügte eine einzige Handbewegung um Eleanor ans Ziel ihres nächtlichen Einbruchs zu bringen.
Dort lagen sie – acht Tabletten in einer kleinen, unscheinbaren Packung, beschriftet mit dem einen Wort: Tetradyxol.
Eleanor überlegte einen Augenblick. Sollte sie alle an sich nehmen, oder nur eine einzige? Nähme sie nur eine, wäre die Wahrscheinlichkeit größer, dass Dr. Marcus annehmen würde, sich in der Zahl einfach geirrt zu haben. Aber was wäre, wenn ein einzelner Traum mit Tetradyxol nicht ausreichen würde, um dem Geheimnis um Nummer Sieben auf den Grund zu gehen? Nähme sie hingegen alle an sich, wüsste Dr. Marcus sofort, dass sie gestohlen wurden. Aber er würde nicht wissen von wem, solange es ihr gelänge, sie gut zu verstecken. Eleanor
Weitere Kostenlose Bücher