Holunderliebe
dem kosmischen Gleichgewicht in der Waage halten.«
Ich sah sie fassungslos an. So nebenher und lapidar löste sie eine Frage, der die Wissenschaft seit Jahrzehnten nachging. »Und warum jetzt?«, fragte ich schließlich.
»Weil ich bald sterbe«, erklärte sie so sachlich, als würde sie über das heutige Wetter sprechen. »Anders als meine Vorfahrinnen habe ich keine Tochter oder eine andere junge Hebamme im Umfeld, der ich das Wissen hätte weitergeben können. Die Mädchen gehen heutzutage auf die Hebammenschule und interessieren sich nicht mehr für das Wissen einer alten Landhebamme.« Sie seufzte. »Ich würde also dieses Kraut mit ins Grab nehmen. Vielleicht würde es hier in meinem Garten verwildern und auf der Reichenau weiterleben. Dabei halte ich das für unwahrscheinlich – es ist ziemlich empfindlich, mag keinen Frost, keine Nässe, keine Kälte … Ich und die Frauen vor mir hatten einige Mühe, es am Leben zu halten.«
»Jetzt ist Ambrosia doch zu nichts mehr nutze.« Simon hatte zum ersten Mal seinen Mund geöffnet. »Heute werden die Frauen auch ohne solche Mittel durch die Geburt gebracht. Es gibt Kaiserschnitte, das hat sich wahrscheinlich schon bis zu dir herumgesprochen. Deine Enthüllung kommt ein paar Jahrzehnte zu spät.«
Christine sah ihn ernst an. »Stimmt. Wie ich schon gesagt habe: Ich bin mir nicht sicher, ob diese Geheimniskrämerei überhaupt eine gute Idee war. Andererseits hätte sicher irgendjemand darin ein Hexenwerk gesehen. Und deine Vorfahren haben uns ganz schön bedroht, als sie gemerkt haben, dass wir das Geheimnis der Ambrosia bewahren.«
»Meine Vorfahren?« Simon machte eine verächtliche Handbewegung. »Mach dich nicht lächerlich. Wann soll das denn gewesen sein?«
Sie lächelte, nahm einen weiteren Schluck aus ihrer Tasse und drehte für einen Moment ihr Gesicht in die allmählich höher steigende Sonne. »Wann das war? Anfang des Jahres 827. Es war ein kalter Winter, zumindest wird es so erzählt. Viel Schnee lag auf der Reichenau, die damals Sintlasau genannt wurde. Damals hieß die Hebamme Bertrada. Sie hatte bei der Geburt der kleinen Irmingard geholfen – der Tochter von Thegan und Hemma. Deiner Vorfahrin, Simon. Keine leichte Geburt, so will es die Überlieferung. Hemma war dem Tod näher als dem Leben. Dann fing der Mönch an, einige Samenkörner in einem Mörser zu mahlen und aus diesem Pulver einen bitter-würzigen Tee zu bereiten. Er konnte Hemma helfen, und so besteht deine Familie bis heute fort. Bertrada forderte für ihre Dienste einige der Samen ein. Nicht aus Selbstsucht, sondern weil sie wusste, dass sie vielen Frauen damit das Leben retten würde. Aber dieser Walahfrid machte Ausflüchte und erklärte, dass er die letzten Samen für Hemmas Tee verwendet habe. Dein Urahn Thegan hat das bestätigt, und die beiden haben etwas von einem geheimnisvollen maurischen Geschenk erzählt, das dieser Same darstellen sollte. Bertrada glaubte den beiden Männern.«
Christine hörte auf zu reden und sah in ihren Garten. Für einen Moment glaubte ich, dass sie den Faden verloren hatte oder womöglich eingeschlafen war. Doch auf einmal machte sie die Augen wieder auf und sah Simon mit zornig funkelnden Augen an. »Es kam der nächste Frühling. Dein Vorfahr hatte sich unweit des Klosters ein Grundstück gekauft und angefangen, Kräuter anzubauen. Übrigens genau da, wo auch heute noch dein Laden steht. Walahfrid war zu dem Zeitpunkt auf dem Weg nach Aachen, wo er dem Kaiser helfen sollte, das Reich zu regieren, bis er mit gerade mal vierzig in einem Fluss ertrank. Aber egal, auf jeden Fall war Bertrada der jungen Familie freundschaftlich verbunden. Irgendwann sah sie in Thegans Kräuterbeeten eine ihr unbekannte Pflanze. Als sie danach fragte, gab er eine ausweichende Antwort. Und als Bertrada im Herbst im Vorbeigehen einen der Samen vom Boden auflas, ihn zwischen den Fingernägeln zerdrückte und daran roch, erinnerte sie sich an die Geburt der kleinen Irmingard: Dieses Kraut war das geheimnisvolle Zeug, das Hemma von Walahfrid verabreicht worden war. Sie war wütend. Nein, wahrscheinlich ist das gar kein Ausdruck. Sie tobte. Für die Rettung von Thegans Frau hatte sie nichts verlangt als ein paar Samen – und die hatte Walahfrid nicht herausgegeben, weil er angeblich keine mehr hatte. Und jetzt wuchs ein kompletter Strauch in Thegans Garten? Bertrada holte sich den Lohn ihrer Mühe selbst. Sie entfernte den kompletten Busch und sorgte dafür, dass
Weitere Kostenlose Bücher