Holunderliebe
halten, fahren – bis ich wieder über den Damm kam. Es war weit nach Mitternacht, ich war allein auf der Fahrbahn und ging vom Gas, um misstrauisch die Bäume zu betrachten. Welcher davon hatte wohl das Leben meiner Eltern beendet?
Noch am Morgen hatten mich Bilder von vorbeifliegenden Bäumen und kreischenden Bremsen heimgesucht – ohne dass ich damit etwas hätte anfangen können. Jetzt meldete sich mein Unterbewusstsein nicht mehr zu Wort. Ich sah nur Bäume, die eine Allee bildeten. Schön, ebenmäßig und eintönig.
Ich stellte mich mit dem Auto auf den Parkplatz an der Klosterkirche. Die Scheinwerfer und den Motor schaltete ich aus, dann saß ich im Dunkeln da und lauschte auf die Geräusche der Nacht. Ein Vogel, der in einem Busch nach einem Weibchen rief. Das leise Knacken meines Motors, der langsam abkühlte. Irgendwo ein Hahn, der reichlich verwirrt den noch fernen Morgen ankündigte. Mir fielen die Augen zu, und ich schlief ein paar Stunden tief und fest.
Erst im Morgengrauen wachte ich wieder auf, blinzelte ein wenig und versuchte mich an das Geschehene zu erinnern. Fröstelnd zog ich mir meine dünne Jacke um die Schultern und kletterte aus dem Auto. Nach der langen Fahrt und der unbequemen Schlafposition schmerzte mir jeder Knochen – aber ich machte mich auf die Suche nach dem Friedhof und dem Grab.
Es dauerte ein Weilchen, bis ich mich orientieren konnte. Das Grab von Simons Eltern war schnell gefunden – und ich konnte sehen, dass sich seit meinem letzten Besuch jemand darum gekümmert hatte. Neue Pflänzchen standen neben den alten, ein Sträußchen aus blühenden Kräutern lag direkt neben dem Grabstein.
Simon hatte wenigstens immer gewusst, woher seine Trauer kam und wo seine Eltern ruhten, dachte ich ein wenig bitter. Dann riss ich mich von dem friedlichen Anblick los und ging weiter durch die Reihen, um das Grab meiner Eltern zu finden. Es musste nach all den Jahren ungepflegt sein – wer sollte sich auch darum kümmern?
Doch als ich schließlich die Namen von Irmela und Christian und dazu das Todesdatum auf einem Grabstein fand, war ich verblüfft. Irgendjemand musste Unkraut gezupft haben und hatte auch hier einige Pflanzen gesetzt. Einige Lavendelsträucher, ein paar schöne Gräser und ein Buchsbäumchen sorgten dafür, dass das Grab gepflegt aussah. Mit einem leisen Lächeln ging ich in die Hocke. Simon musste geahnt haben, dass ich herkommen würde. Dieser stille Gruß bedeutete mir mehr, als ich in diesem Augenblick sagen konnte. Mit brennenden Augen fixierte ich die Namen auf dem Grabstein. Wie auch immer meine Eltern sich die Zukunft erträumt hatten: Hier war es zu Ende gewesen.
Die Sonne ging auf und schien mir warm auf den Rücken, zwischen den Ästen des vertrockneten Holunderstrauchs, der neben dem Grab stand, glitzerten Spinnweben. Vögel sangen, es hätte ein friedlicher Moment sein können.
In diesem Moment hörte ich Schritte, die auf dem Kiesweg näher kamen. Es war Simon.
»Ich habe gewusst, dass du kommst«, sagte er.
»Woher?«
»Deine Tante hat mich angerufen und mir erzählt, dass du erst jetzt von deiner wahren Herkunft erfahren hast. Sie hat auch gesagt, dass du noch einmal herkommen wirst. Offenbar hat sie Angst, dass du hier irgendwelche Dummheiten anstellst.«
Ich war erstaunt. Thea musste eins und eins zusammengerechnet und die Telefonnummer von ihm herausgesucht haben. Ich deutete auf das Grab meiner Eltern. »Danke.«
»Ich habe mir gedacht, dass es nicht so aussehen sollte, als hätte sich niemand darum gekümmert in all den Jahren. Dabei ist das die Realität. Warum hätte ich auch das Grab der beiden Menschen schmücken sollen, die im Grunde am Tod meiner Eltern schuld sind?«
»Sind sie denn wirklich schuldig?« Ich sah ihn fragend an.
»Na ja, meine Eltern haben erst durch die Forschung deiner Eltern angefangen, nach bestimmten Wahrheiten zu suchen. Bei dieser Suche sind sie ums Leben gekommen.«
»Und jetzt?« Ich hatte keine Ahnung, was ich mit dieser Frage eigentlich meinte.
Aber Simon wusste es. »Jetzt wird es Zeit, die Toten endlich ruhen zu lassen und nicht mehr ständig an die Vergangenheit zu denken.«
»Ich habe von meinen Toten aber erst gestern erfahren. Bis jetzt hatte ich nicht einmal Zeit zum Trauern. Oder auch nur die Gelegenheit zu begreifen, was damals passiert ist.« Ich schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt glaube ich auch nicht, dass es so einfach ist. Was, wenn es alles nur ein dummer Zufall war? Alle vier
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