Hotel der Sehnsucht
es nicht für ausgeschlossen, dass die Beine ihm den Dienst versagten.
„Das erklärt natürlich einiges", hörte er sich mechanisch sagen, um sich gleichzeitig vor Entsetzen die Hand vor die Augen zu legen. „Wie ist es denn passiert?"
Noch während ihm Nathan antwortete, tastete Andre nach der Whiskeyflasche, füllte sein Glas und trank es in einem Zug aus. „Stand das wirklich in der Zeitung?" vergewisserte er sich erneut. Noch mochte, konnte er nicht glauben, was er gerade gehört hatte.
Samantha ... Wie ein bohrender Schmerz drang ihm das Unfassliche ins Bewusstsein.
„Auf keinen Fall!" ordnete er an und sprang auf. Er wusste, was er zu tun hatte. „Ich komme, so schnell es geht", teilte er Nathan seinen Entschluss mit. „Bis dahin behalte sie im Auge. Aber so, dass sie es nicht merkt!"
Ohne sich von Nathan zu verabschieden, knallte er den Hörer auf die Gabel und zog sich das Jackett über. Der Schock, den das Telefonat ausgelöst hatte, war ihm noch deutlich anzusehen. Und manch anderen hätte eine Nachricht, wie er sie eben erhalten hatte, sicherlich gelähmt. Doch Andre Visconte war aus einem besonderen Holz geschnitzt...
Er saß am selben Tisch wie am Vortag, und wie am Vortag blieb Samantha nicht verborgen, dass er sie heimlich beobachtete - auch wenn er darauf bedacht schien, es sich nicht anmerken zu lassen.
Was wollte dieser Mann nur von ihr? Sie kannte ihn doch gar nicht. Jedenfalls konnte sie sich nicht erinnern, ihn je zuvor gesehen zu haben. Weder hier in der Bar noch sonst irgendwo. Es sei denn...
„Wo bleibt meine Bestellung?" riss Carla sie aus ihren Gedanken. Mit geübtem Griff füllte Samantha Gin in zwei Gläser, während sie gleichzeitig zwei Flaschen Tonic aus dem Kühlschrank nahm und öffnete.
Manchmal wunderte sie sich selbst, wie routiniert ihr die Arbeit in der Bar von der Hand ging, denn eigentlich war sie als Rezeptionistin angestellt worden. Doch in letzter Zeit war die Auslastung des Hotels mit Gästen alles andere als gut, und die Direktion hatte sich gezwungen gesehen, einen beträchtlichen Teil der Mitarbeiter zu entlassen. Für die, die bleiben durften, hieß das allerdings, dass sie überall einspringen mussten, wenn die Umstände es erforderten.
So kam es, dass Samantha in dieser Woche tagsüber an der Rezeption stand, um abends in der Bar auszuhelfen. Entsprechend müde und erschöpft war sie. Allerdings nicht so sehr, als dass ihr entgangen wäre, wie aufmerksam sie der Gast nun schon den zweiten Abend nacheinander beobachtete.
„Kennst du den?" fragte Samantha, nachdem sie die Drinks auf Carlas Tablett abgestellt hatte, und nickte unauffällig zu dem Tisch, an dem der Mann saß.
„Meinst du den gut aussehenden Lockenkopf in dem Armani-Anzug?" Und auf Samanthas Nicken hin fuhr Carla fort: „Er heißt Nathan Payne, wohnt in Zimmer 212, hat gestern Nachmittag eingecheckt und ist Geschäftsmann", zeigte sie sich bestens informiert. „Es hätte mich auch gewundert, wenn einer wie er sich ausgerechnet unser Hotel ausgesucht hätte, um Urlaub zu machen."
Dass Carla sich so abschätzig über das Tremount-Hotel äußerte, kam nicht von ungefähr.
Auch wenn die Lage auf einer Landspitze in einer der schönsten Gegenden von Devon im Süden Englands kaum besser sein konnte, übernachteten hier fast ausschließlich
Geschäftsreisende, die selten länger als eine, bestenfalls zwei Nächte blieben. Um es zwei oder gar drei Wochen auszuhalten, fehlte es dem Hotel einfach an Klasse.
„Angeblich arbeitet er für eine der großen Hotelketten, die diese supermodernen und exklusiven Ferienanlagen entlang der Küste betreiben. Wer weiß, vielleicht ist er ja hier, weil er unseren alten Kasten kaufen und umbauen lassen will?"
Samantha war erstaunt darüber, wie viel Carla in der kurzen Zeit über den Gast in Erfahrung gebracht hatte. Und der Gedanke, dass sein Interesse dem ganzen Haus und nicht speziell ihr, Samantha, galt, hatte durchaus etwas Beruhigendes. „Der alte Kasten, wie du es ausdrückst, könnte eine Renovierung gut gebrauchen", sagte sie erleichtert.
„Das schon", erwiderte Carla ernst und nahm das Tablett vom Tresen. Bevor sie ging, wandte sie sich noch einmal zu Samantha um. „Was das für uns bedeuten würde, brauche ich dir ja wohl nicht zu erklären."
Das brauchte sie allerdings nicht. Samantha wusste selbst, dass ein neuer Besitzer als Erstes das Hotel schließen und alle Angestellten entlassen würde. Was bedeutete, dass sie nicht nur ihren
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