Hundestaffel
Silhouette in der Dunkelheit stehen ließen.
Ich hatte einmal gehört, du hättest deine Eltern verloren; oder sollte ich sagen: Man erzählte sich, dass. Wer weiß, wer damit angefangen hatte, doch man erzählte es sich. Und man behauptete, du hättest deshalb nie von dir selbst gesprochen, weil die Erinnerung daran immer noch zu schmerzhaft wäre etc. Manche erzählten auch, deine Augen würden deshalb ständig tränen. Kurzum, es lief das volle Traumaprogramm; Geschichten über dich lagen irgendwo zwischen lagerbefeuerter Schauergeschichte und einem unfreiwilligen Witz. Trotzdem würde ich gerne wissen, welche Teile der Geschichte mit deiner Erinnerung übereinstimmten. Wahrscheinlich keine. Allerdings bin ich versucht, diese Erinnerung für dich zu erschaffen, auch wenn es lächerlich ist. Es liegt natürlich nahe, die Sturzbäche in deinen Augenwinkeln als Indiz zu sehen. Dabei laufe ich Gefahr, dir absichtlich eine falsche Erinnerung einzuimpfen. Aber welche Erinnerung ist schon richtig. Und welchen Zugriff habe ich noch auf dich, außerhalb solcher Phantastereien? Gar keinen. Heute noch weniger als damals.
Ach Anna, was schläft hinter deiner Fassade? Jeder Mensch begräbt in sich eine Geschichte, die nur ihm selbst gehört, die empfindliche Pflanze der eigenen Erinnerung. Lass mich eine Geschichte von dir erzählen. Eine dunkle Geschichte. Ein grausames Geheimnis. Eine Erinnerung, wie nur ich sie dir geben kann. Damit du für mich einen Inhalt bekommst. Sicher werde ich dir damit nicht gerecht. Aber ich muss mich vor dir nicht mehr rechtfertigen, vor niemandem mehr. Was ich von dir mitnehme, das existiert nur noch in mir. Und ich treffe die Entscheidung, welche Figuren in mir paradieren. Hör zu, Anna, welche Erinnerung ich dir gebe:
Als Anna an jenem Abend einschlief, dachte sie an ihre Mutter. Sie erinnerte sich, als Kind jeden Monat auf dem Friedhof gewesen zu sein. In ihrem Gedächtnis fanden sich nur undeutliche Andeutungen eines Erlebnisses: Das knirschende Geräusch des Schotterwegs. Der kalte Wind auf dem Weg dorthin. Die Erinnerung an den Friedhof war wie eine Ahnung, wie eine kleine Insel in ihrem Gedächtnis, auf der nur das Gefühl und ein verwaschenes Bild existieren konnten
. (War es immer derselbe Wind? Warst du vielleicht nur einmal dort? Oder im Gegenteil: einmal zu viel? Ist das alles nur aus einem Groschenroman abgeschrieben?)
Eigentlich war sich Anna nicht sicher, ob es nicht doch nur ein Traum gewesen war, aus dem sie gleich wieder aufgewacht war, ohne zu wissen, ob sie ihn wirklich durchlebt hatte. Manchmal träumte Anna davon, dass ihre Mutter an ihrem eigenen Grabstein stand, sich zu ihr, zu Anna, umdrehte und ihr mit einem Glas Schnaps zuprostete. Anna erinnerte sich, ihrer Mutter mit den Augen zu folgen, ihren Rücken mit Blicken zu streicheln, die Höcker, wo die Schulterblätter die Haut auswölbten. Sie stellte sich vor, wie es wäre, den Ellenbogen zu berühren, der gerade eine Mondsichel in die Luft zeichnete, während der Alkohol mit einem Schluck verschwand
. (Köstlich! Es muss fast abgeschrieben sein.)
In ihren Träumen begegnete sie dem Rücken ihrer Mutter immer wieder. Ein wiederkehrender Traum, immer wieder die sanften Bewegungen der mütterlichen Schulter unter dem Stoff der Bluse, die wie ein Hauch über die vertraute Haut brandete und Anna mit sich forttrug. Sie folgte ihrer Mutter vom Rand des Glases zur Mauer des Friedhofs. Sie folgte ihr durch das Tor hinein in das schummrige Licht der Straßenlaternen. Auf der Straße fuhren Autos, eine gigantische Menge von Autos, in allen Farben zugleich und doch nur in einer; brennende Autos, in denen die Fahrer verkohlten. Hinter den Fenstern der Autos sah Anna schwitzende Familien, auf dem Weg in den Urlaub, die Haut vom Sonnenbrand rot gefärbt und mit grotesk großen Sonnenbrillen in den Gesichtern. Annas Mutter führte sie über die Straße, Anna starrte in die Fenster der vorbeifahrenden Autos, fast vergaß sie ihre Mutter neben sich, sie ging mechanisch weiter, den Blick auf die vorbeifliegenden Gestalten geheftet, an denen die Flammen hochzüngelten wie ein Lachen, das lautlos über ein Gesicht huschte
.
Es waren immer die letzten Schritte auf den Rand der Straße zu, die Anna alleine gehen musste. Mit dem letzten Satz über die Gehsteigkante, in dem Moment, als ihre Sohle auf dem Asphalt aufsetzte, erkannte sie, dass ihre Hand kalt geworden war, sie bemerkte, dass ihre Mutter die Hand nicht mehr hielt. Und wenn
Weitere Kostenlose Bücher