Liebe Hoch 5
Adriana Popescu – Polar-Express
»Hannah, das kannst du nicht machen!«
Erneut drücke ich auf die Klingel neben dem Namensschild Schwarzbeck/Polar und hoffe, dass sie diesmal nachgibt. Von mir aus darf sie sauer sein. Genervt. Ja sogar wütend – aber sie soll endlich diese verdammte Tür öffnen!
»HANNAH!«
Dauerklingeln, wie früher, als man im Kindesalter die Nachbarn nerven wollte. Aber irgendwann erstirbt das Klingeln. Mist! Sie hat sie ausgeschaltet. Vor zwei Wochen hatte sie ganz unauffällig gefragt, wo man noch mal die Klingel ausschalten könnte … Und ich Idiot habe es ihr selbstverständlich gezeigt. Das Handy hat sie natürlich auch schon längst ausgeschaltet. Ach was, vermutlich hat sie sich letzte Woche eine neue Nummer zukommen lassen. Jetzt stehe ich vor unserer Haustür, zu der mein Schlüssel nicht mehr passt, und drücke auf die Klingel neben dem Schild mit unseren Namen – und es passiert nichts. Meine Freundin geht nicht an ihr Handy und hat mich auf eine sehr uncharmante Weise vor die Tür gesetzt.
Neben mir stehen drei Kartons, meine Sporttasche, mein Kulturbeutel, mein Plattenspieler, die Ski-Schuhe und mein Surfbrett. Mit anderen Worten: alles, was mir gehört. Nur unseren Kater – also meinen Kater – den sehe ich nicht. Natürlich nicht. Oscar will sie behalten. Oscar, der mich sowieso nicht gemocht und immer in meine Schuhe gepinkelt hat.
Es ist der 24. Dezember, ich trage ein Weihnachtsmannkostüm und meine Freundin hat sich nicht nur von mir getrennt, sondern sie hat mich regelrecht aus ihrem Leben geschnitten. Einfach so. Und ob ihr das jetzt glauben wollt oder nicht, das war noch nicht das Schlimmste, was mir heute schon passiert ist. Aber dazu später.
»Ja, hallo Hannah, ich bin es noch mal. Ben. Ich wollte nur sagen …«
Was genau will ich ihr noch mal sagen? Dass sie mich bitte zurück in die Wohnung lassen soll und mir eine zweite – okay, vierte! – Chance geben soll? Das könnte ich versuchen, aber es würde nicht ehrlich klingen. Nein, so richtig böse bin ich ihr nicht. Klar, ich hätte auch noch zwei Monate (oder so) mit ihr in der Wohnung leben können. Vermutlich sogar zwei Jahre. Aber eine kleine Warnung wäre eine nette Geste gewesen. Vor allem nach einer so langen Zeit. Drei Jahre war Hannah jetzt die Frau an meiner Seite. Da könnte man doch eine SMS erwarten. Sowas wie: »Ben, es geht nicht mehr.« Oder: »Ben, du hast 2 Tage, um auszuziehen.« Aber was will ich ihr nun sagen?
» … dass du ein herzloses Miststück bist! An Weihnachten! Das ist echt zum Kotzen!«
Damit beende ich etwas aufgebracht meinen Spruch auf ihrer Mailbox und hieve den nächsten Karton in den Kofferraum des Mitsubishi L300, meines geliebten Kleintransporters und Traumwagens . Ein Glück haben wir dieses Jahr keine weißen Weihnachten, das hätte mir nun wirklich noch gefehlt. Die fast schon frühlingshaften Temperaturen lassen mich unter dem Polyesterkostüm schwitzen. Außerdem kratzt der Rauschebart, den ich ebenfalls noch immer trage. Scheiß Weihnachten! Das steht auch jetzt schon fest.
»Schau mal, Mama! Frag doch den Weihnachtsmann!«
Eine Kinderstimme ertönt irgendwo hinter mir auf der Straße und reflexartig ziehe ich den Bart wieder in eine ordentliche Position. Als ob das noch irgendwas retten würde. Ich bin kein guter Weihnachtsmann und die meisten Kinder haben das sofort entdeckt. Leider.
»Lara, das ist kein echter Weihnachtsmann.«
Okay, vielleicht erkennen es auch nur die Mütter. Ein bisschen fühle ich mich in meinem Stolz verletzt und drehe mich langsam um. Der dicke Stoffbauch lässt mich älter wirken als ich bin, und auch wenn ich mit meiner Interpretation von Santa keinen Oscar gewinnen werde, lege ich mich ins Zeug.
»Ho-ho-ho, wer wird denn gleich sowas sagen?«
Ich nenne es meine »Ho-ho-ho-Stimme« und zeige ein Lächeln, irgendwo unter diesem Ungetüm von einem Kunstbart, der den Großteil meines Gesichts verdeckt. Eine junge Frau steht mit ihrer kleinen Tochter an der Hand vor mir und sieht mich skeptisch an. Klar. Wir beide wissen, ich bin nicht Santa. Aber müssen wir der Tochter den Weihnachtsspaß ruinieren, nur weil wir einen miesen Tag hatten?
»Frag ihn, Mama!«
Das kleine Mädchen, vielleicht sechs Jahre, sieht ihre Mutter aus großen blauen Augen an und lächelt. Ihr fehlen zwei Zähne oben, so wie bei Felix auch.
»Lara, der Mann ist nicht …«
»Frag ihn!«
Wer kann Kinderaugen schon
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