Hungerkralle
Wageninnern war es eisig. Leutnant Brown musste
lange draußen vor der Sperre auf sie gewartet haben. »We all got really plenty
to eat at Gatow. But could I
first get rid of my trunk at my place? And I think, I should quickly change my
dress, before I meet the Colonel.«
Brown nickte. »Sure,
your flat is almost on the way to the Forsthouse, isn’t it?« Er fuhr los.
Vera schloss die Augen.
Das zweite Wiedersehen mit Berlin hatte sie die ganze
Zugfahrt über in tiefste Schwermut gestürzt und ihr zuvor bereits den
Nachtschlaf geraubt, denn Karl, ihr geliebter Karl, war mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit tot, umgekommen im Brandinferno des Adlon.
Gleich zwei Personen hatte sie zufällig
am Abend vor der Rückfahrt getroffen, die es ihr mit fast identischen Worten
erzählt hatten: einer von den älteren Etagenkellnern aus dem Adlon- Volkssturmtrupp,
dem sie beim Schneeschaufeln auf dem Hof des britischen Offizierskasinos
begegnet war, und ein Page, der jetzt als Küchenhilfe dort arbeitete.
Karl war nach Aussage der beiden kurz vor
Ausbruch des Brandes in den Adlon -Weinkeller hinuntergegangen und wäre
nachher garantiert nicht unter den wenigen Menschen gewesen, denen noch
rechtzeitig die Flucht auf den Pariser Platz geglückt war.
Langsam erwärmte sich der Wagen. Vera
öffnete die Augen wieder.
»You look very tired«, sagte Leutnant
Brown nach einem Blick in den Innenspiegel.
»It will pass away. The trip
was horrible.«
»I can imagine«, bemerkte Colonel Teasdales Adjutant mitfühlend. »Just take a short nap, it helps.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Road conditions are bad. It’ll
probably take more than half an hour to reach your house.«
»I’ll try«, versprach Vera und schloss
die Augen erneut. Sie fühlte sich hundemüde und wie gerädert, aber an Schlaf
war nicht zu denken.
Irgendwann musste sie dann doch
eingenickt sein, denn als der Mercedes scharf in die kopfsteingepflasterte
Straße einbog, die zu der Reihenhaussiedlung am Rande von Braunschweig führte,
schreckte sie hoch und wusste sekundenlang nicht, wo sie war.
Es schneite immer noch heftig.
»It won’t take long, Mr.
Brown. I promise!« Vera, wie in einem
Traum, der nicht der ihre war, trug den Koffer nach oben ins Dachgeschoss und
zog sich schnell für das Essen mit Brian um, während unten der Mercedes mit
laufendem Motor wartete. Sie streifte ein hochgeschlossenes, langes
dunkelblaues Wollkleid über das eng anliegende Trikot, das sie auch bei ihren
Akrobatikvorführungen in Berlin angehabt hatte. Sie und Leyla, die Sängerin,
beide von ähnlicher Statur, trugen das Kleid abwechselnd zu entsprechenden
Anlässen. Dann schlüpfte Vera in ein Paar bordeauxrote Halbschuhe, das einzige
Schuhwerk neben den zerkratzten Lederstiefeln und den Bühnenslippern, das sie
besaß und das einigermaßen zu dem Wollkleid passte.
Erst dann schaute sie in den Spiegel über
dem Spülstein ihrer Behelfsküche neben der Schlafkammer und begann wie in
Trance Lippenrot aufzutragen.
Der Lippenstift war ein Geschenk von
Brian. Eines der vielen, die sie nach der Bruchlandung mit dem Lazarettflugzeug
auf einer Landstraße in der Nähe von Wolfenbüttel von ihm bekommen hatte. Und
es waren alles Präsente ohne Gegenleistung gewesen, wenn sie die Stunden nicht
aufrechnen wollte, die sie miteinander verplaudert hatten. Der Colonel hatte
natürlich ein Auge auf sie geworfen, das war offensichtlich gewesen, sie aber
nie bedrängt, nachdem sie ihm von Karl erzählt hatte. Brian Teasdale war zehn
Jahre jünger als Karl, völlig anders in Aussehen und Temperament, aber ebenso
ein Kavalier der alten Schule. »Better try to find out what happened to him«,
hatte er gemurmelt, und dann sogar: »I’ll see if I can help.« Brian hatte Wort
gehalten. Ohne seine Fürsprache wären Vera und die anderen Künstler bei den
strengen Kriterien für Fernreiseerlaubnisse, zumal noch recht komfortabel mit
Transportmitteln der Alliierten, niemals in Berlin aufgetreten. Weder im Juli
noch jetzt im Winter.
Vera zog sich die Augenbrauen mit einem Kohlestift
nach. Auch ein Geschenk von Brian.
Sie waren sich Ende April in einem
britischen RAF-Hospital außerhalb von Braunschweig zum ersten Mal begegnet. Er
hatte dort mit zerbrochenen Rippen gelegen – die Folge eines Autounfalls –,
Vera wegen der Gehirnerschütterung und etlicher Verstauchungen und Prellungen,
die sie bei der Notlandung des Lazarettflugzeugs davongetragen hatte. Das war
noch so ein Albtraum,
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