Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
gehörte auch meine Mutter.
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Wir wohnten in Mingora, dem größten Ort im Tal und der einzigen richtigen Stadt. Es war einst eine kleine Gemeinde gewesen, aber dann waren viele Menschen aus den umliegenden Dörfern dorthin gezogen und hatten einen recht schmutzigen, übervölkerten Ort daraus gemacht. Heute gibt es in Mingora Hotels, Colleges, einen Golfplatz und einen berühmten Basar, auf dem man traditionelle Stickereien, Edelsteine und alles Erdenkliche kaufen kann. Der Fluss Marghazar schlängelt sich durch die Stadt, milchig-braun von den Plastiktüten und den Abfällen, die hineingeworfen werden. Er ist nicht klar wie die Flüsse im Hügelland oder wie der breite Swat-Fluss außerhalb der Stadt, wo wir in den Ferien hinfuhren und die Leute Forellen angelten.
Unser Haus lag in dem Bezirk Gulkada, das bedeutet »Ort der Blumen«, vorher hieß er aber Butkara, »Stätte der buddhistischen Statuen«. Unweit von unserem Zuhause gab es ein Feld mit geheimnisvollen Ruinen, verfallenen Löwenstatuen, die auf dem Hinterteil saßen, zerbrochenen Säulen und kopflosen Standbildern. Das Merkwürdigste von allem waren Hunderte von steinernen Schirmen. Manche Freundinnen von mir spielten zwischen den Steinen Verstecken, sie glaubten, wie Kinder nun mal sind, diese Stätte sei zu unserem Vergnügen da.
Beim Schulpicknick.
Der Islam kam im 11 . Jahrhundert in unser Tal, als der muslimische König Sultan Mahmud von Ghazni aus Afghanistan unser Herrscher wurde. Aber davor war das Swat ein buddhistisches Königreich. Die Buddhisten tauchten im 2 . Jahrhundert nach Christus hier auf, und ihre Könige herrschten mehr als 500 Jahre über das Tal. (Chinesische Forscher haben aufgeschrieben, dass an den Ufern des Swat 1400 buddhistische Klöster lagen.) Damals schallte der magische Klang von Tempelglocken durch das Tal. Die Tempel selbst gibt es schon lange nicht mehr, doch beinahe überall im Swat findet man zwischen Himmelsschlüsselchen und anderen Wildblumen Überreste dieser religiösen Stätten. Mit Begeisterung spielten wir Verstecken zwischen den Ruinen von Butkara, wo buddhistische Könige und Heilige begraben liegen. Wir picknickten zwischen Bruchstücken eines lächelnden dicken Buddhas, der mit gekreuzten Beinen auf einer Lotosblume saß. Geschichten berichten, dass Buddha häufig höchstpersönlich hier war, er soll den Ort als sehr friedlich empfunden haben. Es heißt sogar, dass Teile seiner Asche in einem riesigen Stupa in unserem Tal verborgen sind.
Die Ruinen von Butkara hatten etwas Magisches an sich. Einmal kamen ausländische Archäologen, um Ausgrabungen zu machen. Sie erzählten uns, früher sei dies ein Pilgerort gewesen, voller wunderschöner Tempel mit goldfunkelnden Kuppeln. Mein Vater verfasste einmal ein Gedicht, dem er den Titel »Die Überreste von Butkara« gab. Darin schrieb er über das friedliche Miteinander von buddhistischem Tempel und Moschee: »Wenn die Stimme der Wahrheit von den Minaretten aufsteigt, lächelt der Buddha / Und die zerrissene Kette der Geschichte fügt sich wieder zusammen.«
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Wir lebten im Schatten des Hindukusch Hindukusch, wo die Männer Steinböcke und Goldhähne schossen. Unser Haus war ein einstöckiger, zweckmäßiger Betonbau. Linker Hand führte eine Treppe auf das Flachdach, so groß, dass wir Kinder dort Kricket spielen konnten. Das Dach war unser Spielplatz. Zur Abenddämmerung saßen mein Vater und seine Freunde oft dort oben und tranken Tee. Manchmal saß ich auf dem Dach und betrachtete den Rauch, der ringsum von den Kochfeuern aufstieg, und lauschte dem abendlichen Spektakel der Grillen. Ringsherum waren Berge, dorthin gingen die Männer, um Steinböcke und Goldfasane zu schießen.
In unserem Tal wachsen zahllose Obstbäume, an denen die süßesten Früchte heranreifen: Feigen, Pflaumen und Pfirsiche. In unserem Garten hatten wir Weintrauben, Guaven und Khaki. Im Vorhof stand ein Pflaumenbaum, der die köstlichsten Früchte trug. Es war ein ständiger Wettlauf zwischen uns und den Vögeln, wer sie erntete. Die Vögel liebten den Baum. Sogar Spechte suchten ihn auf.
Solange ich zurückdenken kann, hat meine Mutter mit den Vögeln gesprochen. An der Rückseite des Hauses befand sich eine Veranda, auf der sich die Frauen versammelten. Wir wussten, wie es war, hungrig zu sein, deswegen gab meine Mutter armen Familien zu essen. Wenn jedoch etwas übrig war, verfütterte sie es an die Vögel. Auf Paschtu tragen wir gern
Tapa s
vor, zweizeilige
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