Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
den sie bis weit oberhalb der Fußknöchel hochgekrempelt trugen. Sie hatten Joggingschuhe oder billige Plastiksandalen an und manchmal Strümpfe über dem Kopf mit Löchern für die Augen, und sie schneuzten sich in die Enden ihrer Turbane.
Sie hatten schwarze Anstecker mit der Aufschrift »
Shariat ya Shahadat
– Scharia-Gesetz« oder »Märtyrertod«. Manchmal trugen sie schwarze Turbane, weshalb die Leute sie
Tor Patki
nannten, »Schwarzbeturbante Brigade«. Sie sahen so dunkel und dreckig aus, dass der Freund meines Vaters sie als »Männer fern von Bädern und Barbieren« bezeichnete.
Ihr Anführer war ein Mann von 28 Jahren namens Maulana Fazlullah, der zuvor den Sessellift über den Swat-Fluss betrieben hatte. Er zog das rechte Bein nach, weil er als Junge an Kinderlähmung erkrankt gewesen war. Er hatte die Madrasa von Maulana Sufi Muhammad besucht, dem Gründer der TNSM , und schließlich seine Tochter geheiratet. Als Sufi Muhammad 2002 anlässlich einer Razzia ins Gefängnis gesteckt wurde, hatte Fazlullah die Führung der Bewegung übernommen. Kurz vor dem Erdbeben war er in Imam Dheri aufgetaucht, einem kleinen Dorf wenige Kilometer außerhalb von Mingora auf der anderen Seite des Flusses Swat, und hatte dort einen illegalen UKW -Radiosender eingerichtet.
In unserem Tal erhalten wir die meisten Informationen über Radio, weil so viele Menschen keinen Fernseher haben oder nicht lesen und schreiben können. Bald schon sprachen alle von Fazlullahs Radiosender, der als »Mullah FM« bekannt wurde. Fazlullah nannte man bald den »Radio-Mullah«. Er sendete jeden Abend von acht bis zehn und dann wieder morgens von sieben bis neun.
Am Anfang ging Fazlullah sehr klug vor. Er führte sich als islamischer Erneuerer und guter Ausleger des Korans ein. Meine Mutter ist sehr fromm, und zunächst mochte sie Fazlullah ganz gern. Er benutzte seinen Sender als mächtiges Werkzeug, um die Menschen anzuspornen, gute Gewohnheiten anzunehmen und die Gebräuche abzulegen, die er als schlecht bezeichnete. Fazlullah sagte, Männer sollten ihre Bärte behalten, aber auf das Rauchen und den Kautabak verzichten. Er sagte, die Menschen sollten vom Heroin ablassen und vom
chars,
das ist unser Wort für Haschisch. Er erklärte den Menschen die richtige Art, ihre Waschungen vor dem Gebet vorzunehmen, zum Beispiel, mit welchem Körperteil sie zu beginnen hatten. Er sagte ihnen sogar, wie sie ihre Geschlechtsteile reinigen sollten.
Fazlullah wurde rasch als »Radio-Mullah« bekannt. Manchmal klang seine Stimme vernünftig, als würde ein Erwachsener einen überreden wollen, etwas zu tun, das man nicht machen will, doch manchmal war sie furchterregend und voll bissigen Eifers. Oft weinte er, wenn er von seiner Liebe zum Islam predigte. Gewöhnlich redete er eine Weile, dann übernahm sein Stellvertreter Shah Dauran das Wort. Dieser war früher mit dem Fahrrad durch die Stadt gefahren, um Leckereien feilzubieten.
Der Radio-Mullah ermahnte die Leute, keine Musik mehr zu hören, sich keine Filme oder Tänze mehr anzusehen. Sündiges Tun wie dieses habe das Erdbeben ausgelöst, donnerte Fazlullah, und wenn die Menschen nicht davon abließen, würden sie abermals den Zorn Gottes herausfordern. Die Mullahs legen Koran und Hadith häufig falsch aus, wenn sie sie in ihrem Land lehrten. Das liegt daran, dass nur wenige Menschen dort Arabisch beherrschen. Fazlullah nutzte diese Unwissenheit weidlich aus.
»Hat er recht, Aba?«, fragte ich meinen Vater. Ich dachte daran, wie furchtbar das Erdbeben gewesen war.
»Nein,
Jani
«, antwortete er. »Er macht den Leuten etwas weis.« Mein Vater erzählte noch, in der Schule wäre der Sender
das
Gespräch im Lehrerzimmer.
Inzwischen hatten seine Schulen an die 70 Lehrkräfte, circa 40 Männer und 30 Frauen. Manche von ihnen waren gegen Fazlullah, doch viele unterstützten ihn. Sie mochten seine Auslegung des heiligen Korans und bewunderten sein Charisma. Sie hörten es gern, dass er die Wiedereinführung der Scharia verlangte, weil jedermann unzufrieden war mit dem pakistanischen Rechtssystem, das unseres ersetzt hatte, als wir Teil von Pakistan wurden. Fälle von Landstreitigkeiten, die früher schnell entschieden waren, brauchten nun zehn Jahre bis zur Klärung. Außerdem wären die Menschen die korrupten Regierungsbeamten, die man in unser Staatsgebiet schickte, am liebsten wieder losgeworden. Es war beinahe, als dächten sie, Fazlullah würde unseren alten Fürstenstaat aus der
Wali
-Zeit
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