Ich bin unschuldig
meine Laufjacke, nicht Philips, die ich getragen hatte, falls sie die Kordel fanden, doch es nagte an mir. Was, wenn der Stoff ein wenig anders war? Ich wusste, dass ich die Leiche berührt hatte, doch vor lauter Schreck wusste ich nicht mehr genau, was ich gemacht hatte. Oder was ich sagen sollte. Ich überlegte einen Moment, woran sich eine Frau, eine Zeugin in meiner Situation erinnert, was sie sagen würde. Die Sekunden verstrichen, und irgendwann war es zu spät, um überhaupt etwas zu sagen.
Ich brachte die Worte später heraus, konnte die Erinnerungen wieder »ausgraben«. Es hätte keine Rolle spielen dürfen, doch irgendwie hat diese Verzögerung Perivale misstrauisch gemacht, eine winzige Kleinigkeit, eine verzögerte Weiterleitung von Informationen, mit unabsehbaren Folgen. Oder lag es an mir? An meinem Verhalten? Ich habe mir die ganze Zeit solche Mühe gegeben, unter allen Umständen angemessen zu reagieren und das Grauen und die unguten Vorahnungen, die mich die meiste Zeit quälten, die blinde Angst in die Art von Schock und Empörung fließen zu lassen, die ein Unschuldiger an den Tag legen würde. Die ganzen Beweise, die er auftischte, die Fotos, die er auslegte wie Trophäen. Wie emsig mein Gehirn da ratterte. Die Erde: Ich hätte den Boden in Anias Wohnung aufwischen sollen, das war dumm. Die Zeitungsausschnitte: Wie seltsam, dass Ania sie gehortet hatte – ganz spezielle Andenken. Die Kleider: Die haben mich umgehauen. Es kam mir gar nicht in den Sinn, Philip könnte heimlich meinen Schrank geplündert haben. Der Secondhandladen, Marta und ihr eBay – beides schienen plausible Erklärungen. Und dann zog Perivale die Kreditkartenquittung aus dem Ärmel. Philip hatte aus Versehen meine Karte benutzt, das war offensichtlich. Doch mit was für einer möglichen Erklärung konnte ich aufwarten? Hat Perivale die Qual in meinen Augen gesehen, hinter den schnippischen Bemerkungen, den unpassenden Witzen? War es das?
Feuchtigkeit von der Schwelle ist durch meine Hose gesickert. Ich wechsele zur Bank. Mir ist danach, mich bäuchlings hinzulegen. Die Gefühle anderer, das Leiden anderer, es ist mir alles zu viel geworden. Christas Trauer, Toleks Wut. Jemand stirbt, und es ist nicht vorbei. Die Qualen gehen immer weiter.
Das Wochenende, an dem er sie nicht erreichte, als ich wusste, dass sie tot war, er aber nicht – wie nervös er da war, wie verzweifelt. Das Mittagessen mit seinen Eltern: Ich mochte die Hölle durchmachen, doch ich hielt durch, genau wie ich auf der Arbeit lächelte und das Gesicht wahrte. Ich verachtete ihn dafür, dass er seinen Vater ignorierte, dass er sich so gehen ließ. Ich weiß noch, dass ich dachte: Ich bin froh, dass sie tot ist. Der Tag, an dem er es erfuhr, war anders, das Telefongespräch, bei dem er kaum ein Wort herausbrachte. Als ich ihn an diesem Abend im Büro beobachtete, wie er blind auf den Bildschirm starrte, verschwand der Zorn, aufgezehrt von Reue und Mitgefühl. Ich musste mich zwingen, nur dazustehen und ihn nicht in die Arme zu nehmen.
Ich rechnete damit, dass Philip zur Polizei gehen würde. Ich beobachtete ihn aus dem Augenwinkel und wartete, doch er tat nichts. Ich war starr vor Erwartung. Als er schwieg, musste ich mich darauf einstellen, vorausdenken, mein Gehirn am Laufen halten. Sobald ich in Haft war, musste Philip wegbleiben. Mit jeder Faser meines Seins sehnte ich mich nach ihm, doch ich musste die Sache herunterspielen, sonst hätte die Gefahr bestanden, dass er nach Hause kommt. Er wäre mit Anwälten und gerichtlichen Verfügungen bewaffnet erschienen – doch das war viel zu riskant. Er hätte der Polizei alles erzählt, hätte mich womöglich selbst verdächtigt. Singapur hat mir in die Hände gespielt. Solange er von der Bildfläche verschwunden war, hatte ich kein Motiv.
Ich schaffe es endlich aufzustehen und ducke mich sofort. Beim Café lungert ein Mann herum, späht herüber. Hat er mein Schreien und Schluchzen gehört? Hat er mich gesehen? Ich versuche still zu verharren, doch ich zittere am ganzen Körper. Ich lege mir die Hände auf die Augen.
Eingebildete Stimmen, knarrende Dielen. Die Polizei, die Journaille, mit denen bin ich klargekommen, doch das Gefühl, ausspioniert und verfolgt zu werden, die Streiche, die einem Schuldgefühle spielen, um von sich abzulenken, das treibt mich in den Wahnsinn. Dieser Stalker hat nie existiert. Er war ein Hilfeschrei, eine erfolglose Bitte um Mitgefühl auf dem Höhepunkt von Philips Affäre.
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