Ich bin unschuldig
gebunden, und jetzt knote ich sie auf und ziehe sie über mein T-Shirt. Ich spüre, wie der Schock sich allmählich legt und zu etwas Normalerem, Erklärbarerem wird.
»Kann ich Ihr Autogramm haben?«, fragt PC Morrow, und ich drehe mich mit einem instinktiven Lächeln und gehorsam erhobener Hand um, bevor ich begreife, dass sie nur will, dass ich meine Aussage unterzeichne.
Als ich aufschaue, kommt DI Perivale den Weg runter, und in der Ferne höre ich neue Sirenen, die sich durch das Gewirr von Einbahnstraßen in Wandsworth nähern und lauter werden. Hunde und Soko, Leute mit Kameras und Gerätschaften – was, Stöcken? –, um im Gras zu stochern, um Beweise zu finden, Fasern, Farbe, Glas, um herauszufinden, wer das hier getan hat.
Es ist ein seltsames Gefühl, es ist, wie loszulassen. Es ist jetzt nicht mehr meine Tote. Sie gehört jetzt ihnen.
Eingekeilt im dichten Verkehr von Stockwell nach Waterloo, von Minute zu Minute mit mehr Verspätung, fünfundvierzig Minuten, die sich zu neunzig ausdehnen, verpasse ich die morgendliche Produktionsbesprechung, wodurch ich den ganzen Tag im Hintertreffen bin. Als wäre ich das – nachdem ich über eine Tote gestolpert bin – nicht eh schon.
Stan Kennedy, mein Komoderator, ist, als ich vorbeigehe, in der Künstlergarderobe und plaudert mit zwei Gästen – eine Hebamme, die den Pampers-Preis für herausragende Leistungen gewonnen hat und hier ist, um hinsichtlich einer neuen Sitcom über Geburten zu sprechen, und eine arme Frau etwa in meinem Alter, deren Sohn sich vor einem Jahr im Alter von vierzehn das Leben genommen hat, nachdem er eine Zeit lang auf Facebook gemobbt worden war. Unter dem Tisch schnüffelt ein Lurcher nach runtergefallenen Krümeln, der, wie die Regieassistentin Dawn mir erklärte, »das Herz der Nation gestohlen hat«, weil er auf einem bei YouTube eingestellten Filmchen mit einem Huhn Fußball spielt. Leben, Tod und ein Hund, das ist hier bei Mornin’ All ganz normal.
Falls Stan mich sieht, dann schaut er nicht auf. Das Leben wäre leichter, wenn wir miteinander klarkämen. Er lacht laut, als ich zum Make-up eile – das kehlige, schallende Gelächter, das sein Markenzeichen ist und das ihn so natürlich und liebenswert rüberkommen lässt, in dem er sich ganz auf den Menschen vor ihm konzentriert. Selbst die trauernde Mutter wird bezaubert sein, den Blick lächelnd auf die Füße senken und unsichtbare Knitterfalten aus ihrem Rock streichen. Er schenkt es jedem, außer mir. Das ist Krieg durch Unterlassung. Meine Freundin Clara, die ihm zweimal begegnet ist, sagt, seine zackigen Eckzähne machten ihn so attraktiv – sie machten das Mädchenhafte seiner Züge wieder wett. Seine Unterlippe ist viel dicker als seine Oberlippe – als hätte er eine draufbekommen. Clara, das kleine Biest, findet sie zum Reinbeißen.
Ich kann es immer noch hören, sein leutseliges Zigaretten-und-Schnaps-Bellen, das von den Wänden widerhallt, als ich den Flur hinunter in meine Garderobe gehe. Irgendetwas an diesem Lachen gibt mir immer das Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Annie wartet bereits, nervös wegen meiner Verspätung, die Tuben aufgereiht, die Warmluftbürste im Anschlag. Ich komme rein und entschuldige mich gleich; ich mache ihr die Arbeit nur ungern noch schwerer, als sie eh schon ist. Ich weiß nicht, ob man ihr gesagt hat, warum ich zu spät komme – aus dem Auto habe ich die Produzentin kurz darüber informiert, was passiert ist, und vielleicht hat sie es rumerzählt.
»Sie sehen aus wie der Tod«, sagt sie, als ich mich setze. Also nicht.
Ich wünschte, ich hätte Zeit, ihr alles zu erzählen. Ich unterhalte mich gern mit ihr. Das sage ich ihr immer wieder, denn ich möchte, dass sie sich besser fühlt wegen ihres Jobs. Obwohl ich wahrscheinlich nur möchte, dass ich mich wegen ihres Jobs besser fühle. Ich habe es gar nicht verdient, dass man so ein Tamtam um mich macht. Aber jetzt geht es nicht. Es ist kurz vor zehn. Es ist nicht genug Zeit. Es wäre ihr gegenüber nicht fair. Annie, die kurzes Haar trägt und kein Make-up aufgelegt hat, ist zu nervös, um zu plaudern, und ich habe mir schon ein karmesinrotes Kleid von Diane von Furstenberg über den Kopf streifen lassen und ziehe das Gesicht glatt für Cashmere Beige oder Opal Beige, öffne die Lippen für Sangria oder Old Hollywood, schließe die Augen für Weizen und Zobel, Toast und Taupe. Kann sein, dass sie recht hat. Vielleicht sehe ich aus wie der Tod – violette Flecken unter
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