Ich bleib so scheiße, wie ich bin
besonders faul und undiszipliniert, um uns anschließend vorzunehmen, uns noch mehr anzustrengen, diese ungeliebten Charaktereigenschaften zu überwinden. Wir ignorieren unsere Widerstände und Selbstzweifel, die doch so wertvolle Hinweise darauf sein könnten, was uns wirklich Spaß machen würde. Stattdessen nehmen wir jeden Tag aufs Neue den zähen Kampf gegen unser unperfektes Ich wieder auf.
Aber was wäre eigentlich so schlimm daran, wenn wir so blieben, wie wir sind? Könnten wir unsere Zeit nicht in angenehmere Dinge investieren als in unsere unerfreuliche Selbstverbesserung?
Auf den folgenden Seiten habe ich versucht – gegen den allgemeinen Trend –, ein Plädoyer für das konzeptionslose Dahinleben zu entwerfen, weil ich glaube, dass der konzeptionslose gegenüber dem minutiös durchgeplanten Lebensweg unbestreitbare Vorteile hat. Es droht nämlich durchaus nicht gleich das soziale Abseits, wenn man Gelegenheiten ergreift, anstatt Ziele zu verfolgen, und wenn man nur lernt, wo es unbedingt erforderlich ist. Kurz: Wenn man das Leben anfängt, bevor man perfekt ist.
Auf dem Weg, ein besserer Mensch zu werden, steht uns niemand anderes im Weg als wir selbst. So lautet ein weiterer beliebter Motivationsspruch. Und das ist ein Glück: Da es bei den meisten unserer Selbstverbesserungsprojekte darum geht, sich zu normieren, rettet uns unsere Faulheit und Mutlosigkeit davor, ein angepasster Mensch zu werden. Wer die allseits angeforderte Selbstoptimierung ablehnt, erkämpft sich sein Recht, so zu sein, wie er gerade ist. Er macht sich unabhängig von dem Trugbild seines besseren Selbst und von all den Menschen, die angeblich wissen, wie man es erreicht.
Und sollte doch mal wieder einer dieser Selbstverbesserungsgurus den ein oder anderen Verbesserungsvorschlag an uns herantragen, dann kann man ihm mit einem ganz schlichten Argument den Wind aus den Segeln nehmen: Wer besser werden will, hat’s nötig!
1
BLEIBEN SIE DICK,
EITEL, GIERIG, JÄHZORNIG –
UND GLAUBWÜRDIG
VOM MÄRCHEN DER PERMANENTEN WEITERENTWICKLUNG
»Jeder Mensch erfindet sich eine Geschichte,
die er dann, oft unter gewaltigen Opfern,
für sein Leben hält.«
Max Frisch
Andere sind alkohol- oder fernsehsüchtig, rauchen schachtelweise Zigaretten, essen Schokolade oder haben zu viel Sex. Ich war süchtig nach Lebensläufen. Es war ein regelrechter Zwang. Wann immer ich sie in die Hand bekam, studierte ich sie genau: die Lebenswege erfolgreicher Menschen, bekannter Künstler, Sportlerinnen, Forscher, Tänzer, Schauspielerinnen, Architekten, Regisseure, Weltumsegler, Schriftsteller. Wann haben sie angefangen zu üben, zu schreiben, zu tanzen, zu entwerfen oder zu segeln? Wie lange dauerte es, bis sie damit berühmt wurden? Wann haben sie sich entschieden, sich dieser einen Sache zu widmen? Mussten sie dafür ihr altes Leben hinwerfen und ein neues beginnen? Wichtigste Frage dabei: Kann ich das auch noch schaffen? Wird es möglich sein – wenn ich gleich heute anfange –, das Ruder herumzureißen und doch noch etwas aus meinem Leben zu machen?
Je älter ich wurde, desto schwieriger wurde es, Lebensläufe zu finden, die ich mit meinem Werdegang vergleichen konnte: Viten von Balletttänzern und Orchestermusikerinnen, die mit drei oder vier Jahren das erste Mal ihr Instrument in der Hand gehalten oder die ersten Tanzschritte geprobt hatten, wurden sofort aussortiert. Das war für mich sowieso nicht mehr aufzuholen, denn ich habe als Kind keinen Tanz- oder Musikunterricht gehabt, und auch sonst gab es nichts, was ich als Kind schon gerne getan hätte und an dem sich in der Gegenwart nahtlos anknüpfen ließe.
Irgendwann war ich in dem Alter, in dem die erste Karriere vieler Menschen schon wieder zu Ende ist. Die Lebensläufe, die mir geben konnten, wonach ich suchte, waren echte Raritäten. Existierten Menschen, die vielleicht erst mit 28 Jahren ihre wahre Bestimmung gefunden hatten und dann umso schneller durchgestartet waren? Wie hießen sie, was machten sie heute, wann konnte man Interviews mit ihnen im Radio hören, in denen sie schildern, wie sie rückblickend begreifen, dass ihr Erfolg ohne die Brüche in ihrer Biografie nicht denkbar wäre.
Ich dürstete danach, von Frauen und Männern zu lesen, die den Mut gehabt hatten, mit Mitte vierzig oder fünfzig ihre Träume zu verwirklichen. Auch ich würde hart arbeiten, wenn sich ein lohnendes Ziel gefunden hätte. Ich war bereit, den ersten Schritt zu tun, wenn ich die Gewissheit hätte,
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