RECKLESS HEARTS
Dezember 2005 Berlin
Selin stand vor dem Medizinschränkchen im Badezimmer und überlegte gerade, ob sie ein Aspirin gegen ihre drohenden Kopfschmerzen nehmen sollte, als die Wohnungstür aufgeschlossen und gleich darauf mit einem lauten Rums zugestoßen wurde.
Sie horchte auf, vernahm seine müden, schweren Schritte auf dem Flur, hörte, wie sein Schlüsselbund gegen den Wandspiegel krachte und, statt auf der Kommode darunter zu landen, scheppernd auf den Holzboden fiel. Als Nächstes ging der Fernseher an und irgendwelche Stimmen quasselten laut durcheinander.
Selin konnte sich bildhaft vorstellen, wie er sich - von der harten Arbeit ausgelaugt - schnaufend auf die Couch warf und befreit grunzte, sah den Fettsack förmlich vor ihrem geistigen Auge dasitzen, nach Öl und Schweiß stinkend, die kurzen, stämmigen Beine von sich gestreckt, die knubbligen Arme hinter dem Kopf verschränkt und mit seinen Glupschaugen ausdruckslos auf den Bildschirm starrend, zapp … Werbung, zapp … schallend lachendes Publikum, zapp … Nachrichtensprecher, zapp … Explosionen und Pistolenschüsse … da blieb er hängen …
Er war heute noch später heimgekommen als sonst. Sie hatte tatsächlich gehofft, wie durch ein Wunder würde er einfach wegbleiben. Wie durch ein Wunder würden er und seine ganze Sippschaft mit einem Mal aus ihrem Leben verschwunden sein. Würde sie zu sich kommen, irgendetwas spüren? Und wenn, was würde das sein? Ganz gleich was, Hauptsache irgendetwas anderes als diese ewige Leere.
Aber sie wusste, das waren nur dumme Tagträume wie all die anderen dummen Tagträume, die sie in die Tiefen ihres Herzens zu verdammen versuchte, die aber in letzter Zeit immer häufiger gewaltsam an die Oberfläche drängten. Und heute ... heute war ein seltsamer Tag ...
Im Spiegel betrachtete sie mit starrer Miene ihre langen, dunkelbraunen Haare, strich sie mit den Händen glatt, warf den Kopf mal nach links, mal nach rechts wie in der Shampoo Werbung, sah nur eine Fremde, die mit kalten Augen zurückstarrte, erschrak, wie jedes Mal, sah schnell weg. Dann hob sie ihr bunt bedrucktes Kopftuch auf, das vor wenigen Minuten auf dem Boden neben dem Korb für Schmutzwäsche gelandet war, und band es eilig um.
»Selin, was machst‘ denn da so lange, Mensch, komm doch mal raus jetzt«, forderte er schrill. In ihren Ohren klang seine Stimme so unangenehm wie das Quietschen von Kreide an einer Schultafel oder heftig bremsende U-Bahn-Züge.
Sie stapfte ins Wohnzimmer und zeigte sich.
»Ich war auf der Toilette, du musst nicht so brüllen«, sagte sie tonlos, die Arme vor der Brust verschränkt. Er starrte weiter auf den Bildschirm, seufzte müde. »Ja, gut. Was gibt‘s denn zu essen, hm?«
Selin stockte für einen kurzen Augenblick, überlegte, was sie antworten sollte. »Reis mit Huhn«, kam es leise aus ihrem Mund, sie hatte keine Ahnung, warum ...
Sein Lieblingsgericht!
»Reis mit Huhn!«, wiederholte sie, diesmal lauter.
Ihre Stimme hatte so klar und fest geklungen, dass er für den Bruchteil einer Sekunde irritiert aus den Augenwinkeln nach ihr spähte, als wollte er sich vergewissern, dass keine Andere gesprochen hatte. »Äh, schön, schön! Bringst du‘s her?!«, nuschelte er daraufhin und machte seine kleine, typische Handbewegung, als würde er eine Kellnerin zur Eile mahnen.
Selin machte sich auf den Weg in die Küche.
Ihr Kopf war seltsam leergefegt, ihr Körper fühlte sich taub an, die Ohren wie mit Watte verstopft, ein eigenartiges Gefühl von Distanziertheit stülpte sich wie eine Glocke über sie.
Eigentlich musste sie jetzt aus dem Regal das Tablett herausnehmen und irgendetwas Essbares darauf legen, aber sie stockte erneut und griff - einem eigenartigen Impuls folgend - nach der neuen gusseisernen Bratpfanne, die er ihr letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte.
Er hatte ihr das in silbernes Knisterpapier eingepackte Geschenk mit einem schmatzenden Kuss auf ihre Wange und einer feierlichen Geste überreicht, als handele es sich um teuren Goldschmuck oder sonst etwas Besonderes für die geliebte Ehefrau. Selin hatte das Paket, dessen Form und der offen herausragende Stiel den Inhalt längst verraten hatten, ohne jegliche Regung entgegengenommen und kommentarlos in den Schrank gestellt, während Sabri ihr mit gerunzelter Stirn und mutlos blickenden Augen dabei zusah und schließlich kopfschüttelnd und vor sich hin murmelnd ins Wohnzimmer zurücktrottete. Erst einige Tage später, als sie
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