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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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nickte. Mehr ist offenbar nicht zu sagen, in Highgate, vor dem eigenen Grab: Yes!
    Ich machte mit dem Handy ein Foto für meinen Vater, schickte es ihm. Die Frau sah mir zu und sagte etwas. Ich verstand sie nicht.
    Ich nickte.
    Als ich ging, hatte ich einen Satz im Kopf, und diesen Satz konnte ich nie mehr abschütteln. Ich erzähle normalerweise, dass diese Frau, die das Grab von Karl Marx gepflegt habe, den Satz gesagt hat, weil das die Erzählung so hübsch abrundet – aber die Wahrheit ist, dass ich sie gar nicht verstanden habe.
    Der Satz war »einfach so« in meinem Kopf, als ich den Friedhof von Highgate verließ, vielleicht aber, das kann ich jetzt nicht beschwören, stand er auf dem Grabstein mit meinem Namen: »Tot sein heißt gewesen sein, falsches Leben heißt: nicht einmal das.«

Schluss machen
    Er hatte ein auf Anhieb nichtssagendes Gesicht.
    Dieser Satz ist wahrscheinlich einer der vertracktesten Romananfänge in der Weltliteratur, von geradezu bösartiger Dialektik: Mit einer klaren Aussage, die Nichtssagendes bezeichnet, wird die Hauptfigur vorgestellt und sofort wieder unserer Vorstellung entzogen – und zeigt durch diesen genialen Winkelzug doch nur, wie belanglos Anfänge sind. Erste Sätze in Romanen werden maßlos überschätzt. Wenn im Laufe der weiteren Erzählung diese Figur mit dem nichtssagenden Gesicht Kontur gewinnt, plastisch vor uns steht, uns interessiert und gar unser Denken und Fühlen zu ändern vermag – ist der Anfang dann nicht hinfällig geworden? Schlimmer noch: Statt den Roman aus sich heraus zu entlassen, hat dieser erste Satz die Kunstleistung der ganzen Erzählbewegung gleichsam »auf Anhieb« verschluckt und statt eines Schicksals eine äußerst dürftige Botschaft vermittelt, nämlich: »Der erste Eindruck kann täuschen.«
    Wenn aber die Figur tatsächlich nichtssagend und blass bleibt, nur schemenhaft durch die weitere Erzählung schwebt – warum wurde dann noch so viel gesagt, das Nichtssagende auf dreihundertachtundneunzig Seiten durchexerziert?
    Wer Schlüsse ziehen will, hält sich nicht mit Anfängen auf. Und wer sonst als ein Künstler, wüsste besser, dass es letztlich um die Vollendung geht? Einer: der Kritiker.
    Das ist immer mein Berufswunsch gewesen, meine, wie ich dachte, Lebensbestimmung: Literaturkritiker, mehr noch, der Literaturkritiker zu werden. Ich habe dieser fixen Idee Jahre meines Lebens geopfert, mich systematisch vorbereitet. Natürlich studierte ich Germanistik, schließlich Vergleichende Literaturwissenschaft. Ich studierte alle ästhetischen Theorien seit Hegels Ästhetik (die übrigens nicht an seine Logik heranreicht, wo wir den wunderbaren Satz finden: »Es ist nichts und muss etwas werden.«), ich exzerpierte die Rezensionssammelbände aller bedeutenden Kritiker von den Gebrüdern Schlegel bis Hieber, las regelmäßig literarische Neuerscheinungen und verglich meine Leseeindrücke systematisch mit den Rezensionen im Feuilleton.
    Endlich sollte ich meine erste Chance bekommen, eine Rezension gleich für die zweitgrößte österreichische Tageszeitung. Der Redakteur, Herr Kahl, stellte mir in Aussicht, ein fixer Freier zu werden, also ein freier Mitarbeiter, der regelmäßig liefern dürfe. Ich dachte, das wäre ein Beginn.
    Herr Kahl wollte einen Artikel mit 3500 Anschlägen; den Titel des Buches und den Namen des Autors habe ich mittlerweile vergessen – aber der erste Satz des Romans wird mir immer in unauslöschlicher Erinnerung bleiben. Wie viele grundsätzliche Überlegungen hatte er bei mir ausgelöst!
    Die Rezension war beinahe fertiggestellt – es fehlte nur noch der Schlusssatz –, als ich bei einem Spaziergang in der Stadt, über den Schlusssatz nachdenkend, entdeckte, dass das Buch im Modernen Antiquariat bereits verramscht wurde.
    Ich nahm ein Taxi und fuhr zu Redakteur Kahl. Er sah mich an, als hätte er mich noch nie gesehen!
    Auf dem Heimweg wurde mir klar, was mich an dem zugegeben sehr intelligent erzählten Roman gestört hatte: Der Autor hatte keinen überzeugenden Schluss gefunden.
    Ich habe seither keine Rezension mehr geschrieben. Ich bin an meinem Anspruch gescheitert.
     

 

     
    Robert Menasse, geboren 1954 in Wien, studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und Messina. Er lebt als Romancier und Essayist in Wien und Amsterdam.
     
    Er veröffentlichte die Romane Sinnliche Gewißheit, 1988, Selige Zeiten, brüchige Welt, 1991, Schubumkehr, 1995, Die Vertreibung aus der

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