Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sakey
Vom Netzwerk:
eine Hundertachtzig-Grad-Wende hinlegte. Ein Auto raste auf sie zu, der Fahrer wich im letzten Augenblick auf den Gehsteig aus. Jack trat auf die Kupplung und prügelte den Schalthebel vom zweiten in den vierten Gang.
    Unfassbar. Tom und Anna Reed. Sie wollten also mit ihm spielen? Okay. Konnten sie haben. Dann aber richtig.
     
    »Vielleicht sollten wir abhauen«, sagte Tom, während er beobachtete, wie das Regenwasser von den Reifen des Taxis vor ihnen spritzte.
    »Wohin?«
    »Irgendwohin. Jedenfalls raus aus der Stadt. Jetzt, wo Jack einen Cop getötet hat, wird die Polizei wie wild nach ihm suchen. Wir könnten uns einfach davonschleichen und zurückkommen, wenn sie ihn haben.«
    »Und was, wenn sie ihn nicht kriegen?«
    Darauf wusste er nichts zu sagen.
    »Tom?« Ihre Stimme war heiser.
    »Ja, Liebling?«
    »Ich hatte Unrecht.«
    »Wann?«
    »Vorhin. Als ich meinte, dass wir es noch schaffen können.« Obwohl sie bis auf die Knochen durchnässt war und ihre Haare an den Wangen klebten, klang sie feierlich. Sie schüttelte den Kopf. »Es ist wie im Märchen.«
    »Was?« Tom blickte sie an und fragte sich, ob sie allmählich den Verstand verlor.
    »Wie in einem richtigen, alten Märchen, meine ich. Von den Gebrüdern Grimm zum Beispiel.« Sie rieb sich die Augen. »Diese brutalen Märchen, bevor Disney alles verniedlicht hat. Wenn du an der Lampe reibst, hast du wirklich drei Wünsche frei, aber mit keinem läuft es so, wie du denkst. Vielleicht wünschst du dir Reichtum, und prompt stirbt dein Vater. Du erbst sein Vermögen, aber dafür bist du eine Waise.«
    »Wie in Twilight Zone .«
    Sie nickte. »Ich weiß noch, als wir das Geld gefunden haben, dachten wir, es wäre wie eine Wunderlampe. Jetzt würde alles anders werden, haben wir geglaubt, das Geld würde uns aus dem Loch herausholen, das wir uns geschaufelt hatten, und uns von den ganzen dummen Sorgen unseres alten Lebens befreien. Und vor allem würden wir bekommen, was wir uns am meisten wünschten.«
    Tom seufzte leise. Er spürte, wie ihn die Welt zu Boden drückte, ein kontinuierlicher, unnachgiebiger Druck, der einen umstandslos zerquetschen konnte. »Also zumindest mache ich mir jetzt keine Sorgen mehr um den Niedergang des Chicagoer Immobilienmarkts«, meinte er, ohne zu wissen, ob das ein Witz sein sollte oder nicht, ohne zu wissen, was er überhaupt sagte. Sein Kopf schmerzte, seine verletzten Finger pulsierten.
    Anna fuhr fort, als hätte sie ihn nicht gehört. »Als ich klein war, hatte ich so ein illustriertes Sagenbuch. Ich habe es immer und immer wieder gelesen. In der einen Sage ging es um einen Hund – aber es war kein niedlicher Hund, sondern ein ziemlich gruseliger. Er hat einen Vogel gefangen und will ihn im Maul mit nach Hause nehmen, um ihn zu fressen. Aber zuvor muss er einen Fluss überqueren, und da sieht er einen anderen Hund mit einem Vogel im Maul. Und er will diesen Vogel auch noch haben, also sperrt er das Maul auf, um den anderen Hund anzugreifen. Aber natürlich war es nur seine eigene Spiegelung, und am Schluss hat er gar nichts mehr. Damals hat mir der Hund jedes Mal leidgetan, obwohl er schon ziemlich dumm war.« Sie schwieg einen Augenblick. »Dann gab es noch diese griechische Sage, mit dem Jungen, dessen Flügel schmelzen …«
    »Ikarus.«
    »Genau, Ikarus. Er ist irgendwo gefangen, zusammen mit seinem Dad, und sein Dad bastelt ihm Flügel aus Wachs und Federn. Er sagt ihm noch, dass er nicht zu hoch fliegen soll, aber bei der erstbesten Gelegenheit …« Sie pfiff durch die Zähne und ließ die Hand von oben nach unten durch die Luft segeln. »Das Bild dazu war ganz orange und rot und gelb, und davor nur eine Silhouette, die in die Höhe schießt, und Federn, die in die Tiefe schweben. Ich wollte ihn jedes Mal warnen, aber natürlich musste ich umblättern, und dann …« Sie seufzte und vergrub das Gesicht in den Händen.
    Tom wartete stumm, bis sie weiterredete.
    »Vorhin im Hotel meinte ich doch, dass das Schicksal schon komisch ist, weil alles von einer Tasse Instantkaffee abhängt. Als ob das Feuer in der Küche an allem schuld wäre. Aber das ist Schwachsinn, oder? Man kann einer Tasse Kaffee nicht die Schuld am eigenen Leben geben.« Sie schüttelte den Kopf. »Dabei stand alles, was ich wissen musste, in diesem Buch. Und trotzdem habe ich weitergemacht, einfach immer weitergemacht.«
    »Aber nicht allein.«
    »Ich hab dich gedrängt.« Ihre Stimme war ganz leise. »Ich wollte es mehr als du, immer schon.

Weitere Kostenlose Bücher