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Im Bann seiner Küsse

Im Bann seiner Küsse

Titel: Im Bann seiner Küsse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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der Stadt, verhüllten die Dächer und tauchten die Straßen in Schatten. Regen prasselte auf Gehsteige und gurgelte in übervollen, vom Laub verstopften Abflüssen. Pfützen schimmerten auf dem Pflaster wie willkürlich geworfene Silbermünzen.
    Ein guter Tag für Wunder.
    Der Gedanke kam, ehe sie ihn zurückhalten konnte. Sie wusste, dass sie ihn nicht einmal denken sollte, ihn zu denken war der erste Schritt zur Enttäuschung. Aber wie oft oder wie eindringlich sie sich auch ermahnte, nicht zu hoffen, war sie doch nie imstande gewesen, sich an ihren eigenen Rat zu halten.
    Vielleicht war heute der Tag ihres Mantras, ihrer Lebenslinie. Es war dieselbe Hoffnung, die sie jeden Morgen hatte, wenn sie an der Kreuzung Third und Virginia stand und auf den Bus wartete, der sie zu ihrer Arbeitsstelle ins Fred— Hutchinson- Krebsforschungszentrum brachte. Die Hoffnung starb nie, auch nicht nach unzähligen Fehlschlägen. Tatsächlich wuchs sie mit jeder Niederlage.
    Sie lehnte die Stirn gegen die Scheibe und unterdrückte ein flüchtiges Schaudern, als sie das eisige Fenster an ihrer Haut spürte. Die Antwort lag direkt vor ihrer Nase. Sie konnte sie fühlen. Sie musste nur den richtigen Schlüssel finden. Wenn die letzten Tests ihr keine brauchbaren Ergebnisse lieferten, würde sie es von neuem versuchen. Immer und immer wieder.
    Genau dies war es, was Tess am Leben und an der Wissenschaft liebte - alles war möglich, wenn jemand wirklich daran glaubte.
    Und Tess hatte immer daran geglaubt.
    Das gelbe Licht an der Wand über ihrem Kopf blinkte rasch hintereinander. Es war das vom Krankenhaus installierte Ruf-System, mit dem Tess und andere gehörgeschädigte Mitarbeiter überall im Gebäude erreichbar waren.
    Erregt blickte sie auf. Ihr Herz schlug schneller. Unwillkürlich lächelnd lief sie zurück in ihr Büro.
    Dr. Weinstein war schon da, in der Hand eine Mappe mit den Testergebnissen.
    Sie blieb so unvermittelt stehen, dass sie ins Schlittern geriet. Als sie den Blick zu ihm hob und mit angehaltenem Atem auf das Ergebnis wartete, lagen Herz und Hoffnungen und Gebete in ihren Augen.
    Er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf.
    Ihre Enttäuschung war so groß, dass ihre Knie nachgaben und sie sich auf ihren Schreibtischstuhl mit dem abgesteppten Vinylüberzug sinken ließ.
    Dr. Weinstein drückte mitfühlend die Schulter und warf die Mappe auf den Schreibtisch. Sie schenkte ihm einen matten Seitenblick und zwang sich zu einem Lächeln. »Vielleicht beim nächsten Mal«, sagte sie leise, in diesem Fall dankbar, dass sie ihre eigene Stimme nicht hören konnte. Sie hatte es satt, dasselbe zu sagen. Immer wieder.
    Tess schob die Papiere in ihren Aktenkoffer und folgte Dr. Weinstein hinaus. Sie musste gehen, eine Weile allein sein. Sich sammeln.
    Sie schlüpfte in ihren Regenmantel und lief die Treppe hinunter und weiter ins Freie. Die feuchte Kälte eines Spätnachmittags in Seattle traf sie voll ins Gesicht. Regen prasselte auf das dicke Goretex ihrer Kapuze. Sie spürte jeden Tropfen wie die Schwingung eines im Gedächtnis behaltenen Geräusches.
    Sie wandte ihr Gesicht himmelwärts. Kühles Wasser spritzte auf Wangen, Nase und geschlossene Lider. Das eisige Gefühl erfrischte sie und rief ihr mit unerwarteter Kraft in Erinnerung, dass sie am Leben war. Wo Leben war, war auch immer Hoffnung, und wenn es Hoffnung gab, war alles möglich.
    Sie umfasste den Griff des Aktenkoffers fester und lief zur Busstation hinunter, vorsichtig, da der Gehsteig regennass war. Neben ihr sausten Busse, Autos und Taxis durch den grauen Nieselregen. Sie spürte die Vibrationen der Fahrzeuge als leises Beben unter den Füßen. Die gehüteten Geräuscherinnerungen an hupende Autos und heulende Sirenen hallten in ihrer fruchtbaren Phantasie wider und erinnerten sie an die längst vergangenen Tage vor der spinalen Meningitis, als ihr die simpelsten Lebensgeräusche noch nicht abhanden gekommen waren.
    Gerade als sie in eine autoreifengroße Pfütze treten wollte, zögerte sie und wich im letzten Moment seitlich zur Gehsteigkante aus.
    Danach schien alles in Zeitlupe abzulaufen. Das Fahrrad eines Botendienstes prallte gegen ihren Rücken und stieß sie hinaus auf die Straße. Sie geriet auf dem rutschigen Pflaster ins Taumeln und rutschte aus. Der Aktenkoffer flog ihr aus der Hand und segelte durch die Luft. Als er hart auf dem Pflaster aufschlug, öffnete er sich. Papiere flatterten davon und blieben auf dem holprigen Asphalt haften.

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