Im Gefängnis des Glaubens
fahrenden Kuriositätenhändler mehrere ägyptische Mumien. In den Sarkophagen lagen Fragmente von Papyrusrollen. Smith verkündete, dies seien die Originale der alttestamentarischen Schriften der Erzväter Abraham und Joseph. Unter dem Titel The Book of Abraham legte er einen Text vor und behauptete, es handle sich um die Übersetzung der Papyri. Diese Schrift ist noch heute Bestandteil der mormonischen Doktrin. Damals galt das Ägyptische in den Vereinigten Staaten noch als unentzifferbar, aber der Stein von Rosette war bereits entdeckt worden, und Jean-François Champollion hatte die Hieroglyphen ins Französische übersetzt. Im Jahr 1966 wurden die Papyri von Joseph Smith in der Sammlung des Metropolitan Museum of Art entdeckt. Es stellte sich rasch heraus, dass die Passagen, die Smith »übersetzt« hatte, gewöhnliche Bestattungsdokumente waren und keinen Hinweis auf Abraham oder Joseph enthielten. Dieser Schwindel ist seit Jahrzehnten bekannt, was jedoch nichts am Wachstum der Glaubensgemeinschaft und an der religiösen Hingabe der Mormonen geändert hat. 1230 Die Religion kann als Glaube an das Irrationale definiert werden, aber man kann auch sagen, dass das Festhalten an absurden oder zweifelhaften Lehren eine Glaubensgemeinschaft zusammenschweißt und gegen die übrige Welt abgrenzt.
In der Entwicklung von Scientology zur Religion sind auch Parallelen zum Fortschritt der Christian-Science-Kirche zu finden, in die Tommy Davis hineingeboren wurde. Wie L. Ron Hubbard experimentierte Mary Baker Eddy, die Gründerin der Christlichen Wissenschaft, mit alternativen Heilmethoden. Wie Hubbard behauptete sie, Invalide gewesen zu sein und sich selbst geheilt zu haben. Auch sie schrieb ein Buch über ihre Erfahrung, Science and Health with Key to the Scriptures (dt. Titel: Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift), das zur Grundlage für die Gründung der Kirche Christi, Wissenschaftler im Jahr 1879 wurde. 1231 Die Christian-Science-Kirche lehnt die Schulmedizin sehr viel kategorischer ab als Scientology, obwohl beide Organisationen behaupten, eher »wissenschaftlich« als religiös zu sein. Viele Religionen einschließlich der Christlichen Wissenschaft, der Zeugen Jehovas und des Christentums haben unter Verachtung und Verfolgung gelitten. Manche, beispielsweise die Shaker und die Milleriten, starben aus, aber andere, darunter die Mormonen und die Pfingstbewegung, haben sich einen festen Platz im Gedränge der amerikanischen Religionsgemeinschaften erkämpft.
Die Praxis, jeden Kontakt zu Aussteigern abzubrechen oder sie zu meiden (Politik der Disconnection), ist ebenso wenig auf Scientology beschränkt wie die Sehnsucht nach einem religiösen Zufluchtsort. Die amerikanische Gesellschaft wurde von Rechtgläubigen aufgebaut, die sich von ihren nicht puritanischen Mitmenschen in England abkapselten, indem sie einen Ozean überquerten. Es tauchen unentwegt neue religiöse Führer auf, die unbefriedigte spirituelle Bedürfnisse ansprechen. Begünstigt von der zunehmenden Meinungsfreiheit, entstehen in aller Welt laufend spirituelle Bewegungen und neue Glaubensgemeinschaften. Man muss die Geschichte L. Ron Hubbards und der Odyssee seiner Bewegung in diesen historischen Kontext einordnen und vor dem Hintergrund des natürlichen menschlichen Bedürfnisses nach Transzendenz und Unterwerfung betrachten.
Ende der siebziger Jahre verbrachte ich im Rahmen der Recherchen für mein erstes Buch 1232 einige Monate in einer Gemeinde von Amischen und Mennoniten in Pennsylvania. Ihre Bewegung war in Europa praktisch vernichtet worden, aber in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts fanden sie in William Penns Kolonie Zuflucht, wo das »heilige Experiment« von Pennsylvania begann. Die Amischen führen heute noch weitgehend dasselbe Leben wie vor 300 Jahren; ihre Gemeinden wirken wie Freilichtmuseen, in denen das Landleben des 18. Jahrhunderts ausgestellt ist. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft führen in einem religiösen Atoll ein abgeschiedenes Leben fern von der modernen Kultur. Ich war gerührt von der Schönheit ihres einfachen Lebens. Die Amischen betrachten die Erde als Gottes Garten und halten es für ihre Pflicht, diesen Garten zu hegen. In ihrer Welt herrschen Frieden und zweckmäßige Ordnung. Die Individualität wird so weit unterdrückt, dass die Meinungen der Gemeindemitglieder so uniform sind wie die erlaubte Form der Hüte oder die vorgeschriebenen Bärte. Da Mode und Neuheiten verboten sind,
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