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David Trevellyan 01 - Ohne Reue

Titel: David Trevellyan 01 - Ohne Reue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Grant
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    Als ich die Leiche sah, war mein erster Gedanke, einfach weiterzugehen.
    Das hier ging mich nichts an.
    Es gab keinen logischen Grund, mich darauf einzulassen.
    Zwei Schritte kam ich weiter. Wäre es in der Gasse ein wenig sauberer gewesen, wäre ich womöglich tatsächlich weitergegangen. Wenn man den Kerl mit etwas mehr Würde liegen gelassen hätte, hätte mich die Szene nicht so gestört. Aber so, wie man ihn entsorgt hatte – weggeworfen wie einen Sack Müll –, konnte ich nicht einfach vorbeigehen.
    Vielleicht lag es auch daran, dass ich selbst im Laufe der Jahre in solchen schmutzigen Gassen ein paar Mal nur knapp dem Tod entronnen war. Vielleicht auch daran, dass es nichts gab, was ich hätte » Zuhause« nennen können. Aber warum auch immer, ich verspürte eine Art seltsame Verbundenheit mit diesem Penner. Es war zu spät, um ihm noch praktische Hilfe angedeihen zu lassen – er war eindeutig tot –, aber ich war der Meinung, ich könnte zumindest jemanden holen, der sich um seine sterblichen Überreste kümmerte. Wenn ich jetzt für diesen armen Teufel den guten Samariter spielte, dann würde vielleicht jemand dasselbe auch für mich tun, wenn meine Zeit gekommen war. Die Vorstellung, dass meine Knochen sich zwischen Cheeseburger-Verpackungen und benutzten Kondomen in Staub verwandelten, behagte mir ganz und gar nicht.
    Also betrat ich die Gasse. Die Leiche befand sich vier Meter von mir entfernt. Sie lag auf dem Rücken, die Füße dem Gehweg zugewandt. Die Arme waren in die entgegengesetzte Richtung ausgestreckt und wiesen in die schmale Gasse. Obwohl die Handgelenke nicht gefesselt waren, lagen sie dicht beieinander, halb verdeckt von dem Müll auf dem Boden.
    Beim Näherkommen bemerkte ich Einschusslöcher in der Kleidung des Obdachlosen. Sechs Stück. Allerdings erregte nicht die Anzahl meine Aufmerksamkeit, sondern das Muster. Sie bildeten ein sauberes T. Vier Schüsse quer über die Brust auf Höhe der Schultern und zwei darunter, am Brustbein entlang. Sehr präzise Schüsse. Das Werk eines Profis. Vielleicht ein Scharfschütze der Polizei oder ein Soldat. Auf jeden Fall war so etwas in Verbindung mit einem toten Penner ungewöhnlich. Und nichts, was man leicht ignorieren konnte.
    Der Gedanke, die Behörden zu informieren, verlor plötzlich an Attraktivität.
    Ich untersuchte die Leiche von allen Seiten. Sie war eingefallen und schlaff wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Das Alter des Mannes konnte ich nur grob schätzen, etwa fünfundfünfzig Jahre, zehn mehr oder weniger nicht ausgeschlossen. Genauer ging es nicht. Sein Haar war angegraut und ungewaschen, und die Stoppeln von drei oder vier Tagen standen ihm im Gesicht. Die Fingernägel waren abgebrochen und schmutzig, doch die Hände selbst waren glatt. Er trug die Kleidung eines Büroangestellten: einen dunkelblauen Kaschmirmantel, einen grauen einreihigen Anzug, ein feingewebtes Hemd – ursprünglich weiß oder beige – und abgewetzte schwarze Schuhe mit Lochmuster. In meiner Vorstellung tauchte das Bild eines ruinierten Anwalts oder Börsenmaklers auf. Es waren gute Sachen, aber alle hatten die Form verloren und wiesen mehrere Risse und Löcher sowie Flecken auf. An Mantel und Jackett fehlten alle Knöpfe, die Hose wurde mit einem Strick zusammengehalten, die Ledersohle löste sich an einigen Stellen vom Schuh und er hatte seine Krawatte verloren. Die Wall Street war nur ein paar Straßen entfernt. Falls er dort einmal tätig gewesen war, hatte er einen tiefen Sturz hinter sich. Er stank nach Pisse, Kotze und Alkohol. Seine Nähe war außerordentlich unangenehm.
    Ich durchsuchte seine Taschen. Dabei musste ich langsam vorgehen, denn er war voller Blut und ich hatte keine Handschuhe. Mit dem Mantel fing ich an. Zuerst dachte ich, er sei leer, doch als ich ihn auseinanderzog, stellte ich fest, dass ein kleines, hartes, rechteckiges Objekt durch ein Loch ins Futter gerutscht war. Ich nahm es heraus, es war eine flache Glasflasche mit einer klaren, farblosen Flüssigkeit darin. Dem Etikett nach Wodka, die Marke war mir unbekannt. Ansonsten hatte er nichts im Mantel versteckt. Ich wandte mich dem Jackett zu. Eine Innentasche war völlig abgerissen, aber auf der anderen Seite wurde ich fündig. Die Brieftasche des Toten. Sie war noch da. Wer auch immer ihn auf dem Gewissen hatte, hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie mitzunehmen.
    Sie war dünn, aus glänzendem schwarzem Leder und wirkte alt. Die Ecken waren

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